Teil IV
Ich möchte allen Kollegen der Abteilung für ihre Hilfe und Unterstützung danken, die sie mir in der Zeit, als ich dort arbeitete, und auch danach entgegengebracht haben. Besonders bedanke ich mich bei den Mitgliedern meines Teams, von denen ich im Lauf der Jahre alles gelernt habe, was ich über Bescheidenheit, Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft in diesem schwierigen Beruf weiß. Alles, was wir je erreicht haben, ist immer zum Teil, und oft vollkommen, eurem professionellen Einsatz und Können zu verdanken. Ohne euch wäre es unmöglich gewesen, dieses Buch zu schreiben.
Ein Mensch hat mir all die Jahre mehr als alle anderen beigestanden, mir vertraut und trotz unendlich vieler Ärgernisse zu mir gehalten. Du verzeihst mir, du verstehst meine Fehler und du lehrst mich alles, was ich über die oben erwähnten Eigenschaften im wirklichen Leben wissen muss.
Am wichtigsten ist es, dass du mich bei der Arbeit vergessen lässt, wer ich bin, so dass ich daneben auch einfach ein Mensch sein kann. Deshalb ist dir, Eileen, dieses Buch mit Zärtlichkeit und Liebe gewidmet.
Auszug aus: Die Geschädigten von John Mercer
4. Dezember
2 Stunden 25 Minuten bis Tagesanbruch
4:55 Uhr
Jodie
Ein durchschnittlicher Song dauert etwa vier Minuten, dachte Jodie.
Sie hatte längere auf ihrem Player gespeichert, und ein paar waren auch kürzer, aber vier Minuten war wahrscheinlich kein schlechter Schnitt, mit dem man rechnen konnte. Theoretisch sollte es also möglich sein, die Songs zu zählen, die sie hörte, und so zu verfolgen, wie viel Zeit verstrichen war. Fünfzehn Songs wären eine Stunde.
Natürlich wusste sie nicht, wie spät es gewesen war, als sie die Kopfhörer aufgesetzt hatte. Das war ein Problem. Aber trotzdem war es etwas, das sie tun konnte, um sich zu beschäftigen. Sie zählte also beim Zuhören.
Bei Song vierundsiebzig piepste der iRiver einmal, um anzuzeigen, dass die Batterie fast leer war. Panik ergriff sie. Es war schlimm genug, allein im Dunkeln in der Eiseskälte gefesselt zu sein, ohne auch noch mit der Stille fertig werden zu müssen.
Der Player gab schließlich mitten im Song Nummer zweiundneunzig den Geist auf. Er piepste ein letztes Mal und verstummte.
In ihren Ohren hallte es noch ein bisschen nach. Jedesmal wenn sie einatmete, bewegte sich der Schleim in ihrer Nase und machte ein schnarrendes Geräusch. Da er sich hinten im Rachen ansammelte, wurde ihr ein wenig übel, und ihre Nasenlöcher waren wund und gefühllos.
Rechne es aus.
Es war wahrscheinlich etwa sechs Stunden her, seit der Mann die Tür geöffnet hatte – als sie gemerkt hatte, dass er sie ansah, mit ihr sprach, und sie all ihre Kraft gebraucht hatte, um nicht die Augen aufzumachen, zu schreien oder irgendetwas zu tun. Aber sie weigerte sich, seine Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen, hörte nicht einmal zu. Nachdem er dann die Tür geschlossen hatte, hielt sie die Augen immer noch geschlossen. Irgendeine Ahnung ließ sie glauben, er sei noch bei ihr, hocke direkt vor ihr, so nahe, dass sie ihn hätte berühren können. Sie wartete.
Ein paar Minuten später, die längsten Minuten, die ihr Pulsschlag je gemessen hatte, wagte sie, ein Auge einen kleinen Spalt zu öffnen. Und natürlich war sie allein.
Das war sechs Stunden her. Sie wusste nicht, ob es ihr länger oder kürzer erschien. Es war eher wie eine Auszeit, ein Zeitabschnitt, in dem sie sich von ihrem Leben entfernt hatte, damit sie sich nicht mit dem abgeben musste, was geschah. Eine Zeit der Sicherheit.
Es war dumm, doch als die Zeit verrann und der Mann nicht wiederkam, war Jodie auf die Idee gekommen, dass die Musik wie ein Talisman sei. Dass sie einen Schutzwall um sie gezogen hatte, wie durch einen Zauber.
Geborgte Zeit.
Und jetzt war der Player ausgegangen, und sie war nicht mehr sicher.
Jodie rutschte ein bisschen an der Steinmauer herum.
Sechs Stunden. War es also fast Morgen? Es schien draußen ein bisschen heller zu sein, aber vielleicht war das nur Einbildung. Oder das Feuer. Sie sah seinen Lichtschein an der Türritze und die zitternden, schrägen Strahlen, die an den Steinwänden entlang in den Schuppen fielen.
Ihr Rücken tat oben auf beiden Seiten der Wirbelsäule sehr weh, als hätte jemand seine Daumen fest neben ihre Schulterblätter hineingedrückt.
Sie streckte die Beine aus. Das rechte drohte einen Krampf zu bekommen, wenn sie sich bewegte, und sie musste ganz vorsichtig sein. Zuerst musste sie es beugen und dann langsam wieder strecken, vor und zurück, bis sie es ohne Schmerzen ganz ausstrecken konnte.
Sie rieb ihre Oberschenkel, spürte aber nur einen dumpfen Druck, sie schienen so kalt und tot wie Fleisch in einer Kühltruhe. Ebenso ihre Handrücken zwischen Finger und Daumen. Sie rieb jede Hand jeweils mit der Handfläche der anderen, so gut es eben ging. Es brannte.
Draußen schien es sehr still zu sein.
Jodie stand auf, so gut sie konnte. Die Welt kippte etwas zur Seite. In ihrem Blickfeld erschienen Sterne, ihre Schulter stieß gegen die Wand.
Ruhig!
Sie zwang sich, langsam zu atmen, und bewegte sich dann wieder vorwärts, ein paar schlurfende Schrittchen, um die Tür zu erreichen. Sie hatte wenig Hoffnung, dass der Mann mit der Teufelsmaske sie entriegelt hatte und dann verschwunden war, aber immerhin war es möglich. Vielleicht würde sie die Tür öffnen, und ein ganzes Filmteam würde draußen stehen. Ihre Freunde und ihre Familie würden ihr applaudieren.
Sie versetzte der Tür einen leichten Stoß; sie bewegte sich nicht. Die kleine Hoffnung fiel sofort in sich zusammen. Sie war größer gewesen, als sie sich zu glauben erlaubt hatte. Aber sie war immer noch eingeschlossen.
Du musst weiter nachdenken.
Die Ritze am Rand der Tür. Nervös kauerte sie sich etwas mehr zusammen und presste ihr Auge ans Loch. Halb erwartete sie, dass eine Nadel von der andern Seite durchgestoßen würde.
Immer noch Nacht.
Und der Mann war nicht fortgegangen. Er lag am Feuer, etwa zehn Meter vom Schuppen entfernt. Der große Stapel Feuerholz war jetzt kleiner geworden und der größte Teil des Bodens unter dem Eisenblech mit schwarzer und weißer Asche bedeckt. Es war eine Landschaft aus Staub und Zerfall mit einem kleinen verkohlten Holzhaufen in der Mitte. Der Mann lag diesseits des Feuers vor dem Schuppen, auf einer Art Decke ausgestreckt, mit dem Rücken zu ihr und mit leicht angezogenen Beinen.
Schlief er?
Es sah jedenfalls ganz danach aus, als schliefe er.
Sie merkte sich jedes Detail, das sie sah. Es hatte jetzt aufgehört zu schneien, und sie sah seine Fußspuren auf dem Boden. Sie führten hauptsächlich in die Richtung, aus der sie ihn vorher zum Feuer hatte zurückkommen sehen, um den Schraubenzieher heiß zu machen. Scott musste irgendwo da drüben sein.
Oder jedenfalls seine Leiche.
Sei stark.
Aber wie konnte sie stark sein? Sie war hier eingeschlossen, einem Psychopathen ausgeliefert, der ihren Freund gefoltert hatte und jetzt gelassen am Lagerfeuer zu schlafen schien. Wie konnte er so etwas tun? War er erschöpft von dem, was er mit Scott gemacht hatte? Sie konnte es nicht ertragen. Sie trat von der Tür zurück und setzte sich auf den Steinhaufen, wo sie während der Nacht gesessen hatte.
Sei stark.
Nein, sagte sie zu der Stimme. Das war jetzt alles vorbei. Sie konnte die Tür nicht aufbrechen. Selbst wenn sie es könnte, würde er aufwachen und Eisenstücke heiß machen und sich damit über sie hermachen. Und was auch immer geschehen mochte, er würde irgendwann aufwachen.
Denk nach. Du bist noch nicht erledigt.
Verzweifelt sah sie die Tür an und beobachtete den flackernden Feuerschein am Rand. Und sie dachte: Wieso bin ich noch nicht erledigt? Was soll ich denn tun, damit das nicht geschieht?
Im Moment hatte die Stimme keine Antwort darauf.
4. Dezember
2 Stunden 20 Minuten bis Tagesanbruch
5:00 Uhr
Mark
Der Polizist, der vom Waldrand aus angerufen hatte, hieß Bates. Er war sehr jung und sah müde aus, halb erfroren und voller Panik; ich war also so geduldig wie möglich und versicherte ihm, alles sei in Ordnung. Er müsse nur herausfinden, was genau passiert sei, und mich auf dem Laufenden halten, sagte ich. Er nickte und tat nichts.
»Das heißt jetzt gleich.«
Diesmal nickte er nicht, rannte aber wenigstens los, um zu sehen, ob es Neuigkeiten gab.
Ich stand auf und ging im Büro auf und ab. Das Ganze hatte sich zu einer Katastrophe jenseits jeglicher Vorstellung entwickelt.
Vor dem Bericht über Pete war Mercer in Schwierigkeiten gewesen, aber wenigstens war er bereit gewesen, sich nach Hause aufzumachen. Wir hatten die Dinge nicht mehr in der Hand. Jetzt hatte er sich ohne Zweifel auf den Weg in den Wald gemacht. Gott weiß, was er erreichen zu können glaubte. Wahrscheinlich dachte er überhaupt nicht groß nach. Ein weiteres Mitglied seines Teams war verletzt, möglicherweise getötet worden, und deshalb würden ihn Angst und Schuldgefühle antreiben.
Aber hauptsächlich sorgte ich mich um Pete, und ich fühlte mich allein und machtlos, hier in einem Krankenhaus festzusitzen.
Dann fiel mir ein, dass ich etwas tun konnte, ge rade weil es ein Krankenhaus war. Ich rannte aus dem Umkleideraum zur Anmeldung hinunter und sagte dort Bescheid, ein Kollege sei verletzt worden, möglicherweise schwer, und dass er in Kürze auf dem Weg hierher sein würde.
Als ich ins Büro zurückkam, war Bates wieder auf dem Bildschirm.
»Sie haben ihn gerade weggebracht, Sir«, sagte er. »Er ist im Hubschrauber, sie bringen ihn ins Krankenhaus.«
»Er wird schon erwartet. Weiß man, was passiert ist? Was für Verletzungen er hat?«
»Er wurde drei- oder viermal in die Schulter und den Arm gestochen.«
Mein Gott.
»Haben sie den Kerl erwischt, der’s getan hat?«
»Ja, Sir. Ein Mann, der im Wald lebt. Sie sind anscheinend in sein Lager geraten, und er ist sauer geworden.«
»Jung oder alt?«
»Alt, glaub ich.«
Alt. Also nicht Farmer oder Reardon, oder wie immer sich der Scheißkerl nennen wollte.
Zumindest war Pete von dort weg und unterwegs. In die Schulter und den Arm gestochen – kein Wunder, dass Bates verängstigt aussah. Mein Gott. Wie groß der Druck auch gewesen sein mochte, dem wir hier ausgesetzt waren, dass wir hier sicher im Krankenhaus saßen, hatte es uns zu leicht gemacht, die Gefahren des Gebiets zu vergessen, in dem die Suchtrupps arbeiteten.
»Sind Sie heute Nacht schon dort gewesen?«, fragte ich. »Im Wald.«
»Nein, Sir. Zum Glück soll ich mich hier um die Kom munikation kümmern. Ich würde auf keinen Fall da reingehen.«
Ich wollte ihm gerade sagen, dass das jetzt auch nicht mehr nötig wäre, so wie die Ermittlung sich entwickelte, doch dann fiel mir Mercer ein.
»Ist Hunter schon dort?«
»Nein, Sir.«
»Moment.«
Ich holte mir die Karte mit dem Waldgebiet auf einen der anderen Bildschirme. Die Aktualisierungen liefen immer noch. Gelbe Kreise stellten die Suchtrupps dar, die sich in Gruppen an verschiedenen Stellen im Wald zusammenballten.
Das Bild auf dem Schirm zuckte einmal, und alle bewegten sich wieder ein Stückchen auf die Straße zu.
Vorhin hatte Pete die Methode dieser Suche angezweifelt, und dieser Zweifel schien berechtigt. Keines der Teams war sehr weit gekommen, bevor es zurückgerufen worden war. Auf dem Bildschirm war bestimmt viel weniger gut zu sehen, wie schwierig die Suche da draußen tatsächlich war, wo man dem Wald und dem Schnee ausgesetzt war, aber es war doch ziemlich deutlich erkennbar. Es war von Anfang an eine unmögliche Aufgabe gewesen.
Du meinst also, er ist dort? Und wartet auf uns?
Es war lächerlich erschienen, als Pete das gesagt hatte. Warum sollte der 50/50-Killer geschnappt werden wollen? Und doch konnte ich jetzt nicht umhin, zu denken, dass er gewusst haben musste, wie schwer es sein würde, und dass es, wenn er wirklich dort auf uns wartete, nicht so dumm war, wie es vorher vielleicht den Anschein gehabt hatte. Er hätte doch bestimmt erwartet, dass wir es in dem Gelände schwer haben würden? Dass wir Zeit – und sogar Männer – verlieren würden, wenn wir in einen ähnlichen Zusammenstoß gerieten wie Pete.
Ich rieb mir das Gesicht.
Reardon hätte Scott und Jodie in ihrer Wohnung festhalten können. Er hätte sie an jeden beliebigen Ort bringen können. Warum in den Wald?
Es musste einen Grund für diese Abweichung von seinem früheren Vorgehen geben, dafür, dass er sie in diese Wildnis hinausgeschafft und uns erlaubt hatte, sein Gesicht zu sehen, und dadurch auch seinen richtigen Namen herauszufinden. Er hatte sich uns ausgeliefert und dann begonnen, sein Spiel an einem der unzugänglichsten Orte zu treiben, den er hätte wählen können. Aufgrund dessen, was er uns verraten hatte, würden wir ihn wohl irgendwann finden. Doch wir würden ihn nicht vor Tagesanbruch finden.
Wieder eine Bewegung auf dem Bildschirm, und alle kamen näher an die Straße heran.
Er ist immer noch vorsichtig … nur hat sich das geändert, womit er vorsichtig ist.
Er war vorsichtig, damit er nicht vor Tagesanbruch gefasst wurde. Um zu sehen, ob wir ihn vorher finden und so Jodie McNeices Leben retten konnten.
Vorher war mir diese Idee absurd vorgekommen. Aber wenn es nicht darum ging, warum dann dieser Wald? Warum hatte er Scott überhaupt gehen lassen? Ich bemerkte ein ungutes Gefühl in meinem Inneren. Etwas stimmte hier nicht.
»Ich bin gleich wieder da.«
»Ja, Sir …«
Ich wollte nicht länger mit Officer Bates sprechen, also minimierte ich das Fenster, ließ aber die Verbindung bestehen. Dann saß ich da, atmete langsam und versuchte, mich zu fangen.
Ich konnte nichts tun. Es lag nicht mehr in meiner Hand. Das sagte ich mir immer wieder. Aber ich glaubte es nicht. Ich sollte die Fakten des Tages für Hunter zusammenfassen, aber stattdessen starrte ich auf die Karte. Sie wurde auf dem Schirm abermals aktualisiert. Alle bewegten sich ein bisschen weiter weg von ihr. Von Jodie und Reardon.
Wir werden sie finden.
Jegliche Müdigkeit war jetzt verschwunden. Ja, mein Herz stand unter Strom. Es schlug so heftig, wie es das immer tat, wenn ich an Lise dachte und an das, was an jenem Tag geschehen war. Das gleiche rasende Angstgefühl, das ich hatte, wenn ich den Vorfall in meinem Kopf noch einmal erlebte, der unerbittlich dazu führte, dass ich sie verlor, dass sie nicht mehr da war.
Jodie wird nichts passieren.
Ganz bestimmt nicht.
Plötzlich griff ich nach dem Foto von Jodie auf dem Schreibtisch, das wir aus Scotts Geldbeutel genommen hatten.
Es erinnerte mich daran, dass wir nur Bilder von glücklichen Zeiten machen und dass sie für sich allein uns gar nichts sagen. Scott trug dieses Foto mit sich herum, ohne zu wissen, dass Jodie eine Affäre hatte.
Ich fragte mich, was für Geheimnisse das Bild barg, das auf der Hochzeit der Roseneils aufgenommen wurde. Ich überlegte, welche Geheimnisse Lise mir wohl vorenthalten hatte.
Während ich immer noch das Foto von Jodie betrachtete, dachte ich über Lise nach. In der Kantine hatte Greg die Vermutung geäußert, dass ich kein Mädchen hätte, das ich durchs ganze Land mitschleppen konnte, aber in Wirklichkeit wäre nichts weiter von der Wahrheit entfernt gewesen. Es war tatsächlich so, dass sie mich jede Minute der Reise begleitet hatte, genauso wie an jedem anderen Tag in den letzten sechs Monaten. In der einen oder anderen Form war sie im Lauf des Tages immer wieder aufgetaucht. Nach meinem ersten Gespräch mit Scott hatte ich befürchtet, ich würde mich vielleicht zu sehr in ihn hineinversetzen. In Wirklichkeit war das nicht zu vermeiden.
Ich schloss die Augen.
Das Bild, das ich vor mir sah, zeigte Daniel Roseneil. Sein zerschlagenes Gesicht, als er mit gesenktem Kopf seine stockende Aussage machte, die Gipfel des Grauens, die aus dem Nebel seiner Erinnerung auftauchten. Nachdem ich das gesehen hatte, war mir klar, dass ich es ihm nicht verdenken konnte, sich nicht daran zu erinnern. Ich hatte darüber nachgedacht, wie oft wir anderen sagen, wir könnten nicht ohne sie leben, würden für sie sterben und alles für sie tun. Und darüber, wie selten wir für diese Versprechungen beim Wort genommen werden. Was die Opfer betraf, die zurückblieben, machte ich keinem einen Vorwurf, dass sie sich erlaubten, zu vergessen. Natürlich nicht.
Ich machte die Augen auf und sah wieder das Foto von Jodie vor mir.
Aber Scott war in einer Hinsicht anders als Daniel, oder? Und auch anders als ich.
Meine Finger zuckten, als wollten sie etwas aus eigenem Antrieb tun.
Scott hatte sie nicht verloren. Noch nicht.
Mercer hatte nur ein bisschen mehr Zutrauen verlangt. Zu spät wurde klar, dass ich es gefunden hatte. Jodie lebt noch, dort in diesem Wald. Das Gefühl der Panik nahm zu. Wieder Bewegung auf dem Bildschirm, die Kreise waren jetzt fast alle an der Straße, und die Panik wuchs.
Diesmal ließ ich meine Hand tun, was sie wollte. Meine Finger fanden den Tischrand, und ich schob meinen Stuhl zurück und stand zu schnell auf. Vielleicht würde ich Schwierigkeiten bekommen, aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Ich wollte nicht untätig hier herumstehen. Nicht noch einmal.
Vielleicht war es noch nicht zu spät.
Zum ersten Mal an diesem Tag wusste ich genau, was ich tun musste.
4. Dezember
2 Stunden 15 Minuten bis Tagesanbruch
5:05 Uhr
Scott
»Du bist nicht hier«, sagte Scott. »Ich weiß, was du bist und woher du kommst. Du warst nie hier.«
Im Traum war er wieder in seinem Wohnzimmer, saß gemütlich auf der Couch. An der gegenüberliegenden Wand war eine große Uhr, die da nicht hingehörte. Der Minutenzeiger lief tickend im Kreis, aber viel zu schnell. Er konnte richtig sehen, wie er sich bewegte.
Sechs Uhr.
Eine Minute nach sechs.
Zwei Minuten.
Der Mann mit der Teufelsmaske – bloß ein Mann, ein Mann mit einer Maske – hockte vor ihm und stützte sich mit den Ellbogen auf Scotts Knie. Er war nie mit ihm hier in der Wohnung gewesen. Der Mann war eine Erinnerung an jenen andern Ort, das Steingebäude, wo er ihm so schrecklich wehgetan hatte. Als die Nacht verstrichen war, schien er fähig, in jeden Gedanken und jede Erinnerung von Scott einzudringen.
Fünf Minuten nach sechs.
Der Druck auf seine Beine war vertraut, genauso wie die Dinge, die der Mann immer wieder sagte. Im Traum verdrehte sein Bewusstsein die Erinnerungen aus dem Steinhaus und sah sie wie durch einen Filter, dessen Gewebe immer dünner wurde.
»Ich bin nicht hier?«, sagte der Mann und schaute nach rechts und links, bevor er ihn wieder ansah. »Sag mir, wo wir sind.«
»In meinem Wohnzimmer.«
»Zu Hause?«
»Ja.«
»Wo du mit Jodie wohnst?«
Scott sagte nichts, weil ihm einfiel: Jodie – wo war sie? Es war zwanzig nach sechs. Sie hätte jetzt von der Arbeit zurück sein sollen. Er warf einen Blick nach rechts und sah, dass das Wohnzimmerfenster offen stand und die Vorhänge sich leicht bewegten. Eine Sekunde später spürte er einen eiskalten Luftzug und fing an, heftig zu zittern.
Jodie war im Moment nicht da, und er sagte sich, er solle nicht darüber nachdenken. Sie war einfach irgendwo anders in der Wohnung.
»Schon gut.« Der Mann hatte seine Verwirrung bemerkt.
»Sie ist im Zimmer nebenan, oder?«
Er überlegte und nickte dann langsam. Ja, das stimmte, Jodie hatte sich hingelegt. Sie war von der Arbeit gekommen und hatte so traurig ausgesehen, dass er sie gleich gefragt hatte, was los sei. Nichts, hatte sie gesagt, ihre Handtasche auf den Stuhl geworfen und sich neben ihm auf die Couch fallen lassen. Da hatte er versucht, es aus ihr herauszubekommen. ’n schlechten Tag gehabt? Willst du darüber reden? Nein, wollte sie nicht, und sie hatten einfach eine Weile dagesessen.
»Sie schläft«, sagte er.
Der Mann mit der Teufelsmaske neigte den Kopf.
»Ihr habt euch gestritten.«
»Nein.«
»Doch, aber du merkst es nicht.«
Scott schüttelte den Kopf, aber dann war er sich doch nicht sicher. Vielleicht hatte der Mann recht. Er konnte sich nur daran erinnern, dass sie dagesessen hatte, und wie so oft hatte er weder die richtige Geste noch das richtige Wort gefunden. Vielleicht hatte er sich so frustriert und machtlos gefühlt, dass er nicht nur nicht das Richtige, sondern letzten Endes sogar das Falsche gesagt hatte.
Das kam zu oft vor. Aber sie war so unglücklich! Und es machte ihn rasend, dass er anscheinend nichts machen konnte. Ihre Launen waren nicht von ihm zu beeinflussen. Sie kam bedrückt nach Hause, doch er konnte nichts tun. Am nächsten Tag das Gleiche und am übernächsten wieder. Jeder Tag glich dem anderen.
»Ist schon gut«, beruhigte ihn der Mann. »Das passiert eben manchmal.«
»Nein.«
Die Vorhänge bewegten sich wieder. Der Druck auf seine Knie wurde stärker, als der Mann sich vertraulich vorbeugte.
»Warum ist sie dann da drin?«, fragte er.
»Sie hat einen schlechten Tag gehabt.«
»Sie ist unglücklich. Weißt du, warum?«
Scott schüttelte den Kopf. Er wünschte, er wüsste es. Wenn er wüsste, was los war, dann könnte er etwas tun, um es zu ändern, und versuchen, sie wieder glücklich zu machen. Er würde absolut alles tun, wenn er nur wüsste, wie er ihr helfen konnte.
»Soll ich es dir sagen?«, fragte der Mann.
»Ja.«
»Weißt du noch, wie wir darüber gesprochen haben, dass sie in diesem schmuddeligen kleinen Hotel mit Kevin Simpson geschlafen hat?«
»Ja.«
»Das hat damals wehgetan. Aber jetzt bist du drüber weg, oder?«
Er nickte langsam.
In der Zeit danach war es ihm vorgekommen, als würde es nie wieder eine einzige Minute geben, in der er nicht daran dachte, ganz zu schweigen von einem ganzen Tag oder einer Woche. Aber dann war diese Minute doch gekommen. Und dann der Tag und dann die Woche. Jetzt dachte er kaum noch daran.
»Meinst du nicht, dass sie auch drüber weg ist?«, sagte der Mann.
Scott sah ihn nur an.
»Damals warst du gekränkt. Jetzt ist das verblasst. Und für sie ist es genauso. Als es passiert ist, hatte sie so ein schlechtes Gewissen, dass sie bereit war, alles aufzugeben, für das sie gearbeitet hatte, nur um ihre Beziehung mit dir zu retten. Und weil die Schuldgefühle verblasst sind, bereut sie diese Entscheidung.«
Scott schüttelte den Kopf.
»Nein.«
Der Mann sagte: »Ob es dir gefällt oder nicht, sie fühlt sich nicht mehr schuldig. Sie hasst sich nicht. All das ist vorbei. Aber die Wahl, die sie getroffen hat. Sie hat etwas für dich aufgegeben, und damit muss sie jeden Tag leben.«
»Nein.«
»Doch.« Der Mann nickte. »Sie hat einen Job, den sie hasst, und dann kommt sie nach Hause, zu dir und deinen albernen Bildern. Es gibt keine Schuldgefühle mehr, nur den Verlust. Und sie hat angefangen, dir das zu verübeln.«
»Es war ihre Entscheidung. Ich habe sie nicht gezwungen.« »Sie liebt dich nicht, Scott. Sie ist deiner Liebe nicht würdig.«
Er fing wieder an, zu weinen. »Sie liebt mich noch.«
»Ich weiß besser als du, was sie denkt.«
Scott schaute nach unten und sah, dass der Mann etwas in der Hand hatte. Diesmal nicht den heißen Schraubenzieher, nicht das Messer. Es war nur ein einzelnes Blatt Papier. Aber irgendwie fand er das noch erschreckender und rutschte auf der Couch nach hinten.
Die Welt erschien ein wenig verschwommen, der Raum wurde dunkler und kälter, und sein Zittern verstärkte sich. Der Mann vor ihm schien jetzt fast nur noch ein schwarzer Umriss im Halbdunkel zu sein, über dessen rote Maske Licht aus einer unbekannten Quelle huschte.
Er schwenkte das Stück Papier nahe vor Scotts Händen sanft hin und her. Nimm es. Im ersten Augenblick tat Scott es nicht. Durch die Kälte im Raum war er ungelenk und steif, und die Finger der einen Hand sahen verdreht und merkwürdig aus. Doch der Mann drückte ihm das Blatt in die andere Hand, und er griff automatisch danach.
Scott wandte sein Gesicht zur Decke und betete, Gott möge dem hier ein Ende machen, aber alles über ihm war in völlige Dunkelheit gehüllt.
»Du meinst, sie hatte nur einen schlechten Tag bei der Arbeit«, sagte der Mann. »Aber das war es gar nicht.«
»Doch, das war es«, schluchzte er. »Sonst nichts.«
»Dann lies das mal«, sagte der Mann zu ihm »Hier.«
Der Mann nahm eine Taschenlampe vom Boden auf, schaltete sie an und hob sie nahe an Scotts Ohr, damit das Licht auf die Seite fiel und einen Ring bildete, wie den Fleck von einer Kaffeetasse. Beigefarbene und braune Ringe breiteten sich aus. Der Mann hielt die Taschenlampe schräg, und der Kreis wurde zur Ellipse.
»Lies das.«
Scott schloss sein Auge und schüttelte den Kopf. Aber aus irgendeinem Grund kamen ihm die Wörter trotzdem entgegen.
Ich glaube, ich würde dich gern sehen. Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich Scott anlügen muss, aber ich glaube, es wird mir guttun.
Wie konnte das sein? Aber dann wurde ihm klar, dass er träumte. Es war egal, was er tat, wie fest er sein Auge schloss. Die Wörter standen auf der Seite, die schon gelesen war.
Kannst du dir morgen freinehmen? Obwohl ich das frage, bin ich sicher, dass einer deiner sechzehn Sklaven die Stellung für dich halten wird!
Er öffnete sein Auge. Ja, dachte er, Jodie und Kevin. Jetzt erinnerte er sich daran.
Ich könnte mich krankmelden und vorbeikommen. Geht das in Ordnung?
Der Mann spähte hinter dem Rand der Seite hervor.
»Sie hat wieder mit Kevin Simpson gepennt.«
»Ich glaube dir nicht.«
Schnell richtete der Mann das Licht der Lampe auf Scotts Gesicht und dann wieder auf das Blatt Papier, um ihn auf die Seite hinzuweisen. Scott bemerkte etwas auf der Rückseite des Papiers. Eine Art gewundener schwarzer Schrift. Handschrift. Er sollte das wohl nicht sehen.
»So sehr liebt sie dich«, sagte der Mann. »Du lässt dir alles Mögliche von ihr gefallen, leidest für sie, sorgst dich um sie, und sie geht hin und schläft mit einem anderen.«
Aber Scott war abgelenkt. Er versuchte zu erkennen, was auf der Rückseite des Blattes stand. Es war alles spiegelverkehrt, doch er konnte hier und da ein Wort ausmachen.
Der Mann schien es zu merken und nahm die Taschenlampe weg.
»Eure Beziehung bedeutet gar nichts«, sagte er.
»Doch.«
»Sie hat dich betrogen. Du bist blöd, wenn du glaubst, du liebst sie.«
»Sie hätte es mir gesagt!«
Scott schluchzte. Er konnte es nicht glauben.
»Sie hätte es mir gesagt.«
Aber der Mann mit der Teufelsmaske war plötzlich einfach verschwunden.
Scott sah sich um.
Das Wohnzimmer wurde wieder heller. Die Uhr war nicht mehr da. Alles schien normal. Aber die Stille war schwer und unheilvoll. Es war, als sei etwas verschwunden und hätte alle Laute mitgenommen, würde aber bald wiederkommen, lauter und brutaler als zuvor.
Mach, dass du rauskommst.
Einen Moment war er wie verhext. Er konnte die Hände nicht bewegen, auch die Beine nicht. Dann war er auf den Beinen, stolperte auf den Flur zu; sein Verstand war beharrlich bemüht, die Kontrolle wieder zu übernehmen. Das Ganze war jetzt vorbei, es war erledigt. Es gab keinen Mann. Jetzt nicht mehr. Keine heißen Schraubenzieher oder Hämmer oder Messer. Er war in Sicherheit und zu Hause bei Jodie …
Das Schlafzimmer. Er stand an den Türrahmen gelehnt und sah dorthin, wo sie lag. Auf der hinteren Seite des Bettes war ihr Rücken ihm zugekehrt, die Beine hatte sie angezogen, und ihr Körper hob und senkte sich sanft im Schlaf.
Sie hätte es mir gesagt.
Licht vom Flur fiel auf den Boden und die Ecke des Bettes, erreichte sie aber nicht ganz. Das Zimmer war so still und friedlich, dass er einen Kloß im Hals spürte. Obwohl sie doch genau vor ihm lag, war ihm irgendwie klar, dass sie unerreichbar war. Verloren für ihn.
»Ich liebe dich«, sagte er.
Es kam keine Antwort, nur das gleiche, regelmäßige Atmen. Er ging zu ihr hinüber. Das Bett knarrte unter seinem Gewicht, und dann schwang er die Beine hoch und legte sich hinter sie, seine Brust an ihrem Rücken. Er legte einen Arm um sie und drückte sein nasses Gesicht in ihr Haar. Sie wachte nicht auf.
»Egal, was du getan hast«, flüsterte er, »ich liebe dich.« Und im Schlaf hob sie den Arm und ergriff seine Hand.
4. Dezember
2 Stunden 10 Minuten bis Tagesanbruch
5:10 Uhr
Mark
Alles war einfacher; die klare Absicht, die mich leitete, hatte fast allen Druck und die Anspannung aufgelöst, die sich den ganzen Tag über in mir angestaut hatten. Selbst den Weg durch die Korridore des Krankenhauses zu finden war leichter als vorher. Es schien nicht mehr so viel los zu sein, und es war plötzlich leichter durchzukommen. Vielleicht deshalb, weil ich diesmal einfach in der Mitte des Korridors blieb und weiterging. Die anderen Leute konnten an mir vorbeigehen. Wir hatten hier schließlich alle ähnliche Aufgaben.
Als ich zu Scotts Zimmer kam, nickte ich dem Wachmann zu, ging dann hinein und schloss die Tür hinter mir. Scott schlief, allerdings bei weitem nicht so friedlich wie vorher. Mit einem unbehaglichen Ausdruck auf dem Gesicht lag er auf der Seite.
Er träumte. Wahrscheinlich nichts Gutes.
Ich ging hinüber und berührte seine Schulter.
»Was …«
Er erwachte mit einem Ruck, erschrocken und verwirrt. Ich ließ meine Hand einen Moment liegen und warf ihm einen, wie ich hoffte, beruhigenden Blick zu.
»Ist schon gut, Scott. Ich bin’s nur.«
Ich trat vom Bett zurück und nahm meinen Platz auf dem Stuhl ein. Er atmete schwer, rollte sich dann auf den Rücken und brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Schließlich setzte er sich mit einiger Anstrengung auf.
»Schlecht geträumt?«, fragte ich.
Er beachtete die Frage nicht. »Habt ihr sie gefunden?«
»Nein.«
Ich vermied absichtlich die falschen Zusicherungen, die ich ihm vorher gemacht hatte. So wie die Sache stand, war es keine Frage des noch nicht.
Ich sagte: »Wir haben Probleme damit.«
»Probleme.«
»Das Gebiet lässt sich nur schwer absuchen. Ist ein großes Gelände. Und bei diesem Wetter ist es in der Dunkelheit nicht leicht.«
Sofort sah er nervös aus. Ich fuhr trotzdem fort.
»Also werden wir Ihre Hilfe brauchen. Sie müssen uns noch ein bisschen mehr erzählen, als Sie bis jetzt …«
»Aber ich hab Ihnen alles erzählt, woran ich mich erinnere.«
»Ich weiß.« Hab Geduld mit ihm. »Und Sie haben Ihre Sache gutgemacht. Aber wir müssen noch ein bisschen weiterkommen.«
Bei dieser Aussicht schüttelte er den Kopf.
Ich betrachtete ihn ungerührt. Beim letzten Gespräch hatten wir über das Spiel gesprochen, das der Killer trieb, und er hatte mich gefragt: Heißt das, dass ich Jodie aufgegeben habe? Ich konnte keine endgültige Antwort darauf geben, auch jetzt noch nicht, aber tief im Inneren kannte Scott die Wahrheit. Und er war zwei Stunden allein gewesen und hatte Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen. Sein Verstand sagte ihm, er solle dem Geschehenen den Rücken kehren, und jetzt kam ich und drohte, ihn zur Umkehr zu zwingen.
»Wenn wir Jodie nicht bald finden«, sagte ich, »dann ist es sehr gut möglich, dass wir sie überhaupt nicht finden.«
»Aber ich weiß doch nichts. Ich erinnere mich nicht.«
Ich hatte Verständnis, doch er klang jetzt fast gereizt.
»Worüber hat der Mann sonst noch mit Ihnen gesprochen?«
»Ich weiß nicht.«
Ich sah ihn nur an, ließ ihn wissen, dass er nicht so leicht davonkommen werde.
An seinem Gesicht war abzulesen, dass er sich an etwas erinnerte. Selbst wenn er es nicht mehr wusste, er würde es versuchen müssen.
In der Stille wuchs die Spannung ständig an, aber ich war unerbittlich. Schließlich sah er sich gezwungen, das Schweigen zu brechen.
»Ich weiß nur, dass wir über Jodie gesprochen haben.«
»Das ist nicht alles, was Sie wissen. Ich verstehe, dass es schwer ist, Scott …«
Er fing an zu weinen. »Ich weiß es nicht.«
Instinktiv war ich versucht, nachzugeben, doch das brachte nichts. Ich sah ihn weiter mit der gleichen unerbittlichen Miene an wie zuvor, lehnte mich dann auf dem Stuhl zurück und versuchte, meine Strenge mit etwas Mitgefühl und Verständnis zu mildern.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte ich. »Ich weiß, wovor Sie Angst haben.«
Er schüttelte den Kopf und sah weg.
»Sie haben Angst davor, dass Sie sie zurückgelassen haben könnten und sie gestorben ist«, sagte ich. »Und Sie glauben, Sie werden sich das nicht verzeihen können, oder Sie meinen, die Leute würden Sie deshalb verurteilen. Ich verstehe das besser, als Sie glauben. Aber Scott, sehen Sie zum Fenster hinaus. Noch ist nicht Tag.«
Ich beugte mich vor.
»Sie lebt noch. Was immer Sie glauben, getan zu haben, es ist noch nicht zu spät, es ungeschehen zu machen. Ich beneide Sie darum.«
Er schniefte und schüttelte wieder den Kopf.
»Sie verstehen das nicht.«
»Worüber haben Sie gesprochen?«
Nichts. Sein Körper zitterte.
Ich seufzte leise. Ich hatte keine Ahnung, ob das, was ich als Nächstes sagen würde, auch nur den kleinsten Unterschied machen würde, aber mir blieb sonst nichts mehr übrig.
Empathie.
»Hören Sie mir kurz zu.« Ich sah auf meine Uhr. »Es wird nicht lange dauern, ich glaube, wir haben noch Zeit. Ich möchte Ihnen etwas erzählen.«
Wir waren im Urlaub, mit dem Zelt. Auf einem Zeltplatz am Strand. Wir sind schwimmen gegangen. Eigentlich haben wir nur herumgealbert, aber dabei haben wir den Boden unter den Füßen verloren und nicht gemerkt, dass die Strömung so stark war. Wir haben um Hilfe gerufen, aber es war niemand am Strand. Wir mussten also schwimmen. Und im Grunde war es so, dass ich es ans Ufer geschafft habe und sie nicht. Niemand hätte etwas tun können.
Das hatte ich heute in der Kantine den Teamkollegen erzählt. Aber in gewisser Weise war dies meine Version des Fotos von Jodie, das Scott in seiner Brieftasche hatte. Es war ein Schnappschuss von einem Ereignis aus meinem Leben, den ich immer zur Hand hatte und den ich mit anderen teilte. Und wie das Passfoto war es nur ein kleiner Teil der ganzen Geschichte. Die tatsächliche Wahrheit ist immer zwischen den Zeilen zu lesen. Sie ist im Ungesagten versteckt.
Wir waren im Urlaub, mit dem Zelt. Auf einem Zeltplatz am Strand.
Meine Erinnerungen an jenen Abend waren durcheinander, als hätte das, was später geschah, zurückgewirkt, hätte wie mit einem Hammer die Zeit davor zertrümmert und mir nur Bruchstücke hinterlassen, die ich dann sichten musste. Die Spannung der Zeltstangen.
Ich erinnerte mich, dass ich sie ungeschickt durch die engen Löcher der Zeltleinwand steckte, sie in die richtige Position brachte, so dass das Zelt die richtige Form annahm. Lise schlug nach den Stechmücken, als wir die Heringe in den festen, sandigen Boden schlugen. Ihr Bikinihöschen war hinten etwas verrutscht.
Wir sind schwimmen gegangen. Eigentlich haben wir nur herumgealbert, aber dabei haben wir den Boden unter den Füßen verloren und nicht gemerkt, dass die Strömung so stark war.
Ich bemerkte es zuerst. Ich war kein guter Schwimmer, das Meer war etwas bewegter, als mir angenehm war. Deshalb musste ich mit den Zehen immer wieder den Grund berühren. Und einmal probierte ich es und ging unter. Als ich wieder hochkam, war ich erschrocken und hustete.
Geriet in Panik.
Ist schon gut, sagte Lise. Schwimm einfach an den Strand zurück.
Aber ich strampelte herum und trat ihr aus Versehen in den Magen. Ich erinnere mich noch immer an den weichen und doch harten Aufprall. Sie versuchte, mich zu beruhigen, aber ich hörte nicht zu, sondern strebte mit aller Macht zum Strand, der Instinkt meines Körpers gewann die Oberhand und sagte mir, ich müsse vor allem mich selbst in Sicherheit bringen.
Schwimm, dachte ich. Schwimm mit aller Kraft.
Ich bemerkte, wie rauh die See so weit draußen wirklich war. An der Oberfläche kabbelig, und darunter der starke Sog um Brust und Beine herum. Ich schwamm angestrengt und, wie es mir vorkam, lange Zeit. Als ich einen Moment anhielt, sah ich, dass ich weiter vom Strand entfernt war als vorher.
Auch Lise war geschwommen. Wir waren zu diesem Zeitpunkt immer noch sehr nah beieinander. Ich sah sie an, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich meine eigene Panik. Das gab mir den Rest – ich hatte sie noch nie in Angst gesehen, normalerweise war sie immer ruhig und gefasst.
Schrei, sagte sie sehr ernst.
Wir haben um Hilfe gerufen, aber es war niemand am Strand.
Ich hatte niemals im Leben um Hilfe gerufen, und es klang lächerlich und unangebracht – aber ich schrie. Ich schrie so laut ich konnte, immer wieder. Im Geräusch der Wellen hörte ich sie das Gleiche tun.
Mitten im Rufen und Schwimmen krachte eine Welle auf meinen Rücken herunter und presste mich unter Wasser. Meine Lunge füllte sich mit Wasser, ich hustete und würgte, als ich wieder hochkam, und meine Augen brannten. Die Welt um mich herum war plötzlich nur noch ein verschwommener, verschmierter Fleck. Lise war jetzt weiter weg, wie ein nebelhafter Farbklecks. In meinem Kopf sah ich dunkle Wasserwände sich um sie herum auftürmen, und sie nahmen sie mir weg.
Wir mussten also schwimmen.
Ich schwamm wieder los, strampelte weiter, so heftig ich konnte, blind bis auf die Momente, wenn der Himmel aufblitzte. Aber ich war zu sehr in Panik geraten, um die Kontrolle zu behalten, und das Meer drückte mich immer wieder unter Wasser. Ich begriff, dass ich sterben würde, und ich hatte noch nie eine solche existenzielle Angst verspürt. Im Kampf gegen die Wogen überanstrengte ich meine Arme so sehr, dass die Muskeln anfingen, sich zu verkrampfen. Mental war ich gar nicht mehr da: nur ein Tier mit dem Tod vor Augen, das verzweifelt kämpft, um ihm zu entrinnen. Ich dachte nicht an Lise. In diesem Moment war mir tatsächlich nur ich selbst wichtig.
Im Grunde war es so, dass ich es ans Ufer geschafft habe und sie nicht.
Nach nur einer Minute, wenn überhaupt, wankte ich zum Strand hinauf. Ich trug nur Shorts, fühlte mich aber, als sei ich in voller Bekleidung geschwommen. Meine Arme und Beine schienen mit Wasser vollgesogen, schwer und müde. Im Sand fiel ich sofort nach vorn auf Knie und Ellbogen. Ich würgte und spuckte Wasser aus und schnappte dazwischen nach Luft.
Nachdem ich wieder atmen konnte, zwang ich mich aufzustehen, drehte mich um, schaute auf die See hinaus und rief nach ihr.
Niemand hätte etwas tun können.
Die Beerdigung. Freunde, Kollegen, meine und ihre Eltern. Das Meer gab Lises Leiche nie wieder frei, und so standen diese Menschen alle um ein Fleckchen Erde herum, das nie wirklich ein Grab genannt werden konnte. Der Schal ihrer Mutter flatterte in der leichten Brise, und sie sagte zu mir: »Es gibt nichts, was du hättest tun können, Mark.«
Ich fing an zu weinen, als sie das sagte, nahm es jedoch trotzdem an, und in diesem Satz verdichtete sich das Bild von mir, an dem ich festhielt und das ich den Leuten zeigte. Genauso wie jemand, der das Foto von Jodie sah, lächeln und etwas Nettes sagen würde, nickten die Leute mitfühlend, wenn sie mir zuhörten. Man hätte nichts tun können, das war traurig, aber alles stand im Einklang mit der Welt. Sie würden nicht unter der Oberfläche nach der Wahrheit suchen.
Aber Scott konnte ich dieses Bild nicht einfach so vorlegen. Wenn ich seine Geheimnisse erfahren wollte, musste ich bereit sein, ihm meine zu zeigen.
»Ich stand am Strand«, sagte ich. »Und habe Ausschau nach ihr gehalten, habe versucht, sie zu sehen. Habe laut ihren Namen geschrien. Und da war sie plötzlich.«
Ich hatte sie draußen im Wasser erspäht, wahrscheinlich etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt. Nur durch Glück und blinden Zufall war ich der Strömung entgangen, in der Lise kaum vorwärtsgekommen war.
»Sie hat etwas gerufen, aber ich konnte es nicht verstehen. Ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt gesehen hat. Vielleicht hat sie einfach nur geschrien.«
Aber ich sah sie. Ich sah den Ausdruck von Schrecken, Panik und Schmerz auf ihrem Gesicht.
Zumindest hatte sich Scott jetzt wieder umgedreht und sah mich an. Er hatte auch aufgehört zu weinen, obwohl der sichtbare Teil seines Gesichts rot und geschwollen war und im Licht glänzte. Ich war nicht so naiv, zu glauben, dass ich durch das Erzählen dieser Geschichte einen Schalter umlegen und alles in Ordnung bringen könnte, aber wenigstens sah er mich an. Hörte mir zu. Zumindest hatte ich ihn so lange zurückgewonnen, wie ich ihn würde halten können.
»Ich bin wieder ins Wasser gegangen«, sagte ich. »Aber nur bis zu den Knien. Ich habe ihr zugewinkt, habe ihr zugerufen, alles würde wieder gut, sie müsse nur schwimmen. Aber das Meer war zu aufgewühlt. Eben war sie noch da, und im nächsten Augenblick war sie verschwunden.«
Ich erinnerte mich an das letzte Mal, als ich sie sah. Ein schwarzes Y, das in den Wellen auftauchte. Danach waren da nur noch die Wogen, und ich hatte mein »es wird alles gut« ins Nichts gerufen.
»Sie sind nicht reingegangen?«, fragte Scott.
»Ich wollte«, sagte ich. »Ich habe Anstalten gemacht, reinzugehen. Aber ich habe mich nicht getraut. Ich hatte zu große Angst, noch einmal ins Wasser zu gehen. Und deshalb ist meine Verlobte ertrunken.«
Scott starrte mich schockiert an. Ich hörte ihn langsam atmen.
Ich lächelte, so gut es ging.
»Ich weiß im Grunde meines Herzens, dass ich nichts hätte tun können. Ich hätte noch einmal reingehen können und wäre dann wahrscheinlich auch ertrunken. Sie konnte besser schwimmen als ich. Aber ich mache mir immer noch Vorwürfe für das, was ich nicht getan habe. Ich hätte versuchen können, sie zu retten, aber ich habe es nicht getan, weil ich zu große Angst davor hatte, selbst zu sterben. Verstehen Sie das?«
Er nickte langsam.
»Und das ist sozusagen das Spiel«, sagte ich. »Genauso ist der Mörder, und das tut er. Er richtet es so ein, dass man gegen zu vieles angehen muss, zu vieles zu bewältigen hat, bis nur noch der Ausweg bleibt, einfach wegzugehen. Jeder würde es ebenso machen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, was sie gedacht hat, als sie gestorben ist. Ich kann das nicht ertragen.«
Als ich das sagte, sah Scott so verzweifelt aus, so hilflos, dass ich am liebsten alles zurückgenommen hätte. Aber wir waren jetzt mittendrin, es würde schwieriger sein, aufzuhören als weiterzumachen, bis wir auf der anderen Seite wieder herauskamen.
Er sagte: »Ich hab sie aufgegeben.«
Ich nickte.
»Wahrscheinlich. Aber jetzt sind Sie in der gleichen Lage, in der ich war, als ich am Strand stand. Ihre Freundin lebt noch, Scott.«
Eine der grundlegenden Richtlinien für die Befragung. Und diesmal glaubte ich es tatsächlich selbst.
»Sie sind also in einer besseren Position als ich. Auf Ihre eigene Art und Weise können Sie immer noch ins Wasser gehen und sie retten. Wenn Sie es nicht tun, werden Sie damit leben müssen, alle werden Verständnis dafür haben. Aber bitte machen Sie nicht den gleichen Fehler, den ich gemacht habe. Sie würden nicht im Einklang mit sich leben können. Verstehen Sie, was ich meine?«
Er klang traurig, als er wieder flüsterte: »Ich hab sie aufgegeben.«
Ich beugte mich vor und faltete die Hände. Wenn es passieren würde, dann jetzt.
»Woran erinnern Sie sich?«
Die Frage stand einen Moment im Raum, und das einzige Geräusch war das leise Piepsen von Scotts Puls auf dem Monitor neben dem Bett. Er war jetzt ganz ruhig.
»Er hat mir etwas gezeigt. Ein Blatt Papier.«
»Im Wald? Sie waren in einem alten Steingebäude, und er hat lange mit Ihnen gesprochen. Und da hat er Ihnen dieses Blatt gezeigt?«
»Ich glaube ja.«
»Haben Sie es gelesen?«
»Ich wollte nicht. Aber er hat mich gezwungen.«
»Was war es?«
»Es war eine E-Mail.« Er holte tief Atem. »Sie hatte eine Affäre mit Kevin Simpson. Ihr früherer Geschäftspartner. Es hatte etwas damit zu tun.«
»Aha.«
Er schüttelte den Kopf. »Das wussten Sie schon, oder?«
»Nein. Wir wussten, dass sie einige Zeit in Simpsons Haus verbracht hat. Ich wollte es Ihnen vorher nicht sagen. Der Mann, der Sie entführt hat, hat mit Kevin Simpson dasselbe gemacht. Er wurde gestern Morgen ermordet.«
»Gut.«
Ich antwortete nicht.
Auch Scott sagte nichts. Sein Gesicht war merkwürdig ausdruckslos geworden, doch es schien ihm schwerzufallen, diesen Ausdruck beizubehalten, und er drohte sich in etwas anderes zu verwandeln. Zorn? Kummer? Selbstmitleid? Ich wusste es nicht.
Mach weiter.
»Er hat Ihnen also diese E-Mail gezeigt«, sagte ich. »Was ist dann passiert?«
»Ich habe ihm gesagt, ich gebe auf«, sagte er. »Einfach so. Ich gebe auf. Ich habe es immer wieder gesagt, damit er es versteht und aufhört, mir wehzutun.«
Ich nickte. »Und dann?«
»Er … hat mich gehen lassen.« Scott schniefte. »Oh Gott, er hat mich einfach gehen lassen. Einfach so. Ich hab sie zurückgelassen.«
Innerlich versuchte ich, ihn anzutreiben, doch ich zwang mich, ruhig zu bleiben.
»Er hat Sie losgebunden? Woher wussten Sie, wohin Sie gehen mussten?«
»Nein.« Scott runzelte die Stirn. »Er hat mich eine Weile begleitet. Nur ein paar Minuten, glaube ich. Wir haben einen Fluss überquert, einen Weg. Die ganze Zeit hat er mit mir geredet und gesagt, er würde sich um alles kümmern, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hätte. Er hat sogar gesagt, ich könnte zurückkommen, wenn ich es mir anders überlegen würde. Dann haben wir angehalten, er hat auf die Bäume gezeigt und mir die Richtung angegeben, die ich einschlagen sollte.«
Wir haben einen Fluss überquert, einen Weg.
Ich wollte nach unten laufen, so schnell ich konnte. Die Suchtrupps hatten im falschen Gebiet gesucht. Der Fluss war nördlich vom oberen Teil der n-Linie. Und das Lager, wo er gewesen war, war nur ein paar Minuten von dort entfernt.
Er sah mich mit einem Ausdruck fast völliger Verzweiflung an.
»Und … ich bin losgerannt.«
Ich lächelte ihm verständnisvoll zu, ging dann zu ihm hinüber, setzte mich auf die Bettkante und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Danke«, sagte ich. »Sie haben alles getan, was Sie können. Das nächste Mal komme ich hier herauf, um Ihnen zu sagen, dass wir Jodie gefunden und den Mann gefasst haben, der Ihnen das angetan hat.«
Er fing wieder an zu weinen. Aber er nickte.
Vorsichtig drückte ich seine Schulter, stand dann auf und ging zur Tür.
Als ich sie aufmachte, wandte ich mich um und schaute zurück. Vom Flur fiel Licht auf den Boden und die Ecke des Bettes, erreichte ihn aber nicht ganz.
»Officer.«
Er sah plötzlich trotz der Tränen recht friedlich aus.
»Was immer passiert – ich danke Ihnen.«
»Ich bin bald wieder da, Scott.«
Ich ging auf den Korridor hinaus und schloss leise die Tür hinter mir.
Und dann – erst dann – rannte ich los.
4. Dezember
1 Stunde 50 Minuten bis Tagesanbruch
5:30 Uhr
Eileen
Sie versuchte ein letztes Mal, John anzurufen.
Ihr Finger zitterte, als sie auf die Wahlwiederholungstaste drückte, und ihre ganze Hand bebte, als sie den Hörer ans Ohr hielt. Ein letztes Mal. Seit er sein Telefon abgeschaltet hatte, hatte sie wiederholt versucht anzurufen, immer überzeugt, dieses Mal würde er sich melden. Aber jedes Mal nur …
… das Klingeln.
Eileen schmiss den Hörer quer durchs Arbeitszimmer. Er zersprang beim Aufprall an der Wand und fiel dann, in zwei säuberliche Hälften geteilt, zu Boden; die Platine ragte auf kurzen Drahtstummeln heraus. Sie schaffte es nicht einmal, ein Telefon richtig zu zerschmettern.
Sie ließ sich auf den Sessel fallen, der zurückrollte, bis er an die Wand stieß.
Die zweite Flasche Wein stand auf dem Tisch vor ihr. Irgendwie war es ihr gelungen, zwei Drittel davon vor dem Zubettgehen in sich hineinzuschütten. Das leere Glas war mit den verschmierten Fingerabdrücken von gestern Abend bedeckt. Trotzdem und obwohl es so spät war, verlockte sie der Gedanke, sich auch den Rest einzuschenken. Nur war es eigentlich nicht mehr zu spät zum Trinken, sondern eher zu früh. Und zwei Stunden Schlaf würden nie ausreichen, um die Schuldgefühle aus ihrem Kopf zu löschen. Denn der Beweis lag zerbrochen auf dem Boden an der Wand. Ein solcher Wutausbruch war ganz untypisch für sie. Der Alkohol hatte ihre Gefühle aufgewühlt und sie zu dieser gedankenlosen Aktion aufgestachelt.
Warum hast du mir das angetan, John?
Hatte sie wirklich zu viel von ihm verlangt? Sie lebten doch angeblich in einer Partnerschaft, der sie viele Jahre ihres Lebens gewidmet hatte. Als er dann zusammengeklappt war, war mit ihm auch ihre Welt zusammengebrochen, und sie hatte noch nie solche Angst gehabt. Der Gedanke, dass es wieder passieren könnte, dass er es auch nur riskieren würde, sie das noch einmal durchmachen zu lassen …
Hatte sie zu viel verlangt?
Aber dann konnte er sie nicht einmal anrufen. Eine einfache Sache im Vergleich zu allem, was sie für ihn getan hatte, und er konnte nicht einmal das tun.
Eileens Gedanken waren wie eine Autofahrt im Nebel. Sie konnte sich nur von ihren Gefühlen leiten lassen. Sie war traurig und wütend, vor allem aber gekränkt. Zutiefst verletzt.
Es war ihr Mann, der ihr das angetan hatte. Nach all der Liebe, der Unterstützung und dem Schmerz, und nachdem sie so wenig dafür als Ausgleich verlangt hatte … hatte er sie wegen etwas Wichtigerem zur Seite geschoben, das sie beide zerstören konnte. Er hatte sie angelogen, sie geringgeschätzt, hatte ihr nichts zurückgegeben. Es schien ihm egal zu sein, wie sie sich dabei fühlte.
Du bist ihm völlig egal.
Eileen spürte, wie ihr Gesicht sich vor Anspannung verzog. Und ihr wurde klar, dass sie auf seinem Sessel saß und hasserfüllt auf die Vorhänge starrte.
Nach dem Anruf von Hunter hatte sie eine Weile ratlos dagestanden und dann Johns Handynummer gewählt. Es klingelte und klingelte und brach dann plötzlich ab. Eileen hatte ungläubig den Hörer kurz angestarrt und es dann noch einmal versucht. Aber da war nur dieser lange Piepston. Er hatte das Telefon abgeschaltet.
Er wusste Bescheid.
Danach war sie ein paar Minuten entschlossen von Zimmer zu Zimmer gegangen und hatte alle Lampen im Haus angeschaltet.
Ich meine, Sie sollten wissen, hatte Hunter gesagt, was für einen Fall Ihr Mann bearbeitet.
Ein Klicken des Schalters hatte jeden Raum erleuchtet, und sie war schon unterwegs zum nächsten. Jeder Raum ein aggressives Klicken. Wir haben einen Notfall, alle aufwachen. Er ist hinter dem Mann her, der Andrew Dyson ermordet hat.
Sie hatte ihr Bestes getan, keine Überraschung in ihrer Stimme anklingen zu lassen und mit einem gleichgültigen Ach? zu antworten.
Als sie durchs Haus ging und es rasch zum Leben erweckte, erfüllte sie dabei ein Gefühl der Panik und spornte sie an.
Er hat einen großen Fehler gemacht, das zu verschweigen, und nicht nur Ihnen gegenüber. Der Fall ist ihm entzogen worden.
Das ist Ihnen doch bestimmt recht, Detective Hunter.
Obwohl sie hin und her ging, hatte sie einen Kloß im Hals, ihr Atem war schwach, und das Herz fühlte sich an wie eine Faust, die sich langsam nach oben schob. Sie konnte nichts dagegen tun, wenn es schließlich hervorbrechen würde, und konnte das Unvermeidliche nur hinauszögern.
Er wird bald bei Ihnen zu Hause sein. Wo er hingehört.
Als sie alle Lichter im Haus angeschaltet hatte und in der hellen, kalten Küche stand und nicht wusste, was sie als Nächstes tun sollte, war ihr die Angst in die Kehle hinaufgestiegen. Er hatte sie angelogen. Wie konnte er das tun? Sie stand in der Küche, erinnerte sich an das, was sie zuletzt zu Hunter gesagt hatte, bevor sie auflegte.
Und deshalb haben Sie mich aufgeweckt? Um mir das zu sagen? Haben Sie tatsächlich gedacht, ich wüsste das nicht schon? Sie unterschätzen John, und Sie unterschätzen mich. Tun Sie uns den Gefallen und hören Sie auf, unsere Zeit zu verschwenden.
War es ihr gelungen, genug Gift und Spott in ihre Stimme zu legen? Wahrscheinlich nicht. Bestimmt hatte Hunter ganz genau gemerkt, wie aufgebracht und wütend sie war, und dass sie es abstritt, hatte es nur noch schlimmer gemacht. Aber schließlich hatte er keine große Bedeutung für sie, er war einer jener Männer, die unfähig sind, nach oben zu kommen, und deshalb andere hinabziehen und daraus für sich so viel Vergnügen wie möglich ziehen müssen. Im Grunde wussten diese Menschen genau, wie erbärmlich sie waren. Sollte er doch seinen Triumph haben. Letzten Endes ging dies auf Johns Kosten, und obwohl sie sofort automatisch ihren Mann verteidigt hatte, ging es genauso um sie wie um ihn. Es war ihr inzwischen egal, wie er sich fühlte.
Er hat einfach aufgelegt.
Und da war sie in Panik geraten. Es hatte sie nicht umgeworfen, sie war nicht zusammengebrochen, aber es war trotzdem zu viel. Sie atmete langsam und tief und versuchte, sich zu beruhigen. Und so hatte sie es eine Weile gemacht, dachte absichtlich lange an gar nichts, bis sie merkte, dass sich ihre Finger fest in ihre Arme verkrallt hatten und dass sie etwas tun musste.
Also ging sie wieder nach oben, jeder Schritt wie das Besteigen eines Berges. Dabei sagte sie sich ständig: Es war ein Irrtum. Er hat das Gespräch nicht absichtlich abweisen wollen. Er hat sein Handy nicht mit Absicht ausgeschaltet.
Das würde er mir doch nicht antun.
Und als sie wieder im Arbeitszimmer war, nahm sie den Hörer in die Hand.
Und noch einmal.
Und jetzt war er endlich kaputt.
Eileen ging zum Computer hinüber und betrachtete die Wand dahinter. Das, was John hier alles aufgehängt hatte.
Er hatte vielleicht fünfzig oder sechzig Blätter Papier zu einer Collage in verschiedenen Farben, Formaten und Größen zusammengestellt. Es waren Ausdrucke aus alten Fallakten dabei, immer genau die mit dem einen Detail, das bei der Ermittlung jeweils den Durchbruch gebracht hatte. Ausschnitte aus Presseberichten und Zeitungsartikel. Seine gerahmten Urkunden. Bilder vom Team.
Alles zusammen bildete eine Momentaufnahme seines Geisteszustands. John nutzte die Collage, um seine Gedanken zu sammeln und sich inspirieren zu lassen, aber wenn Eileen sie mit leicht zusammengekniffenen Augen betrachtete, gab ihr das auch Einblick in seine innere Befindlichkeit. Dies hier waren die Dinge, die ihn beschäftigten und um die seine Gedanken kreisten.
Und wo war sie? Wo war Platz für seine Frau?
Die Antwort war, dass es für sie keinen Platz gab, nicht an der Wand selbst. John hatte die zwei Seiten seines Lebens fein säuberlich getrennt gehalten, und deshalb standen zwei Bilder auf dem Schreibtisch neben dem Computer, damit Eileen nicht in seiner Arbeitswelt unterging. Das erste Bild war ein Abzug des Bildes von unten, des Fotos von ihrem Hochzeitstag. Das zweite daneben war von ihr allein, vor nicht allzu langer Zeit aufgenommen. Ich habe dich damals geliebt, schien er zu sagen. Die Zeit ist vergangen, und ich liebe dich immer noch.
Sie blinzelte ein paar Tränen weg, nein, tu’s nicht, und schaute wieder auf die Wand.
Die neuesten Blätter waren auf der rechten Seite dazugekommen. Hier fand sie ein kleines Foto von Andrew Dyson, dem Mitarbeiter, den ihr Mann verloren hatte und dessen Ermordung für ihn der Wendepunkt gewesen war. Daneben hatte John die Rede gehängt, die er bei Andrews Beerdigung hatte lesen wollen, in jenem Moment, als schließlich alles in sich zusammenstürzte.
Ich versinke in Schlaf und bin gewiss,mein Schlummer wird nicht gestört.Und man wird meiner gedenken.Obwohl ich alles vergessen und hinter mir lassen mag,wird dieses Leben weitergehenin den Gedanken und Taten derer,die ich geliebt habe.
Samuel Butlers Grabschrift
Eileen las es noch einmal und konzentrierte sich auf die drei letzten Zeilen.
Obwohl ich alles vergessen und hinter mir lassen mag, wird dieses Leben weitergehen in den Gedanken und Taten derer, die ich geliebt habe.
Dies waren Worte, die John sich zu Herzen genommen hatte. Sie hatte den Kummer gesehen, den er wegen des damaligen Geschehens immer noch mit sich herumtrug. Und seine Arbeit war ihm so wichtig. Es war offensichtlich, wie angespannt und frustriert er in den letzten zwei Jahren wegen seiner Arbeitsunfähigkeit gewesen war. Während er sich erholte, hatte sie ja gesehen, wie lustlos er im Haus umherging. Selbst am Anfang, als sie sich noch vormachen konnte, dass er nie wieder in seinem Beruf arbeiten würde, hatte sie schon gewusst, dass ihr Mann bereits die Gitterstäbe ahnte, die sich ihm in den Weg gestellt hatten. Die Barriere zwischen Johns Wesen und seiner zerstörten Leistungskraft. Und diesem schrecklichen Menschen da draußen, der Andrew und ihm dies angetan hatte.
In den letzten zwei Jahren hatten diese Gitterstäbe einen Schatten der Freudlosigkeit auf ihn geworfen, und nach einer gewissen Zeit hatten nur Eileens Ängste sie an Ort und Stelle gehalten. Weil sie ihn liebte, hatte sie sich erweichen lassen, ihm die Grenzen nach draußen wieder zu öffnen, nachdem er versprochen hatte, nicht zu weit wegzugehen. Und jetzt, als dieser Mann wieder aufgetaucht war, hatte John es doch getan. War sie so blind, wieso war ihr nicht klar gewesen, dass es unvermeidlich war? Er war ihr Mann, sie kannte seine Art. Früher hatte sie ihn geliebt, weil er so engagiert war, so hart arbeitete und sich dem Ziel verpflichtet hatte, den Menschen zu helfen. Sie zu retten.
Jetzt, nach seinem Zusammenbruch, waren es genau diese Charakterzüge, die sie mit großer Angst erfüllten. Denn was wäre, wenn es wieder geschah?
Eileen setzte sich abermals auf den Sessel und schloss die Augen.
Sie hätte wissen müssen, dass es immer wieder darauf hinauslaufen würde. Als sie von John verlangte, was sie von ihm gefordert hatte, hatte sie damit eigentlich versucht, ihn davon abzuhalten, der Mann zu sein, den sie all die Jahre geliebt hatte. Er hatte versucht, für sie dieser neue, andere Mensch zu sein, doch das war unmöglich. Und dieser Gegensatz, dieser Zwiespalt zwischen dem, was sie beide jetzt von ihm brauchten, trieb sie auseinander. Im Augenblick erschien es ihr unüberwindbar. Sie konnte dies nicht ertragen.
So saß Eileen eine Weile mit geschlossenen Augen auf seinem Sessel, fuhr mit dem Finger langsam an ihrer Unter lippe entlang und wusste nicht, was sie tun sollte. Es war, als ob er nur ein Pünktchen am dunklen Horizont war. Sie hatte zu große Angst, um weiter zuzusehen, aber was anderes blieb ihr übrig? Er hatte ihr Leben mitgenommen, ohne ihre Zustimmung.
Also gut, John, dachte sie. Wenn es das ist, was du brauchst … Sie saß noch eine Weile dort und dachte nach. Und dann stand Eileen auf, ging zum Telefon und fing an, es wieder zusammenzusetzen.
4. Dezember
1 Stunde 30 Minuten bis Tagesanbruch
5:50 Uhr
Mark
Dreißig Minuten nach dem Gespräch mit Scott war ich wieder in dem alten Umkleideraum, horchte auf das Gluckern des Wassers in den Rohren und betrachtete eines der Bilder von Scott. Greg hatte in der Wohnung gearbeitet, und die dort gesammelten Hinweise waren der Faktensammlung hinzugefügt worden – stillschweigend, wie ich bemerkte. Er hatte keinen Versuch unternommen, Kontakt mit uns aufzunehmen. Inzwischen war er sich bestimmt über die Auswirkungen seines Handelns klar und hatte mitbekommen, was im Wald vor sich ging. Ich fragte mich, was er wohl dachte.
Auf dem mittleren Laptop war die Landkarte zu sehen. Die meisten Kreise waren um unseren Kommunikationsbus herum versammelt, aber eine kleine Vierergruppe war unterwegs und hatte vom unteren Rand des Bildschirms ein Viertel der Bildschirmlänge nach oben zurückgelegt.
Die Aktualisierungen zogen sich schrecklich lange hin. Sekundenlang sah man keine Bewegung, dann ein Flimmern und eine leichte Veränderung ihrer Position. Sie kamen nur qualvoll langsam voran, aber wenigstens bewegten sie sich in die richtige Richtung.
Inzwischen betrachtete ich das Gemälde. Es zeigte ein Gesicht in grünen und braunen Schattierungen, auf bloße Farbblöcke reduziert. Wenn man die Augen zukniff, sah man, was es sein sollte, aber wenn man nur mal hier- und dahin blickte, verschwand der Gesamteindruck wieder. Ich fand die Ausführung sehr schön, aber der Kontext ließ es unheimlich wirken. Das Gesicht sah aus, als ob es sich in einem Schrei auflöste und zu einer Art Brei zerfloss.
Ich habe eine Woche frei, fielen mir Scotts Worte ein. Ich habe etwas auf dem Computer gemacht. Fotokunst.
Sie sind Maler?
Nein.
Aber ich fand das Bild gut. Ich verstand nicht, warum er so zurückhaltend war, sein offensichtliches Talent zuzugeben. Je mehr ich es allerdings betrachtete, desto stärker schien es mir vom Schmerz geprägt. Das war wohl hauptsächlich meine Einbildung, aber trotzdem wirkte es wie ein gequälter Schrei.
Hilf mir.
Die Karte flimmerte wieder auf, und die Kreise bewegten sich bedrückend langsam weiter.
Wir gaben in dieser Hinsicht unser Bestes.
Nachdem ich wieder zu unserem behelfsmäßigen Büro hinuntergelaufen war, hatte ich noch einmal das Fenster zu unserem Kommunikationsteam im Wald geöffnet und einen dringenden Appell um Beachtung geschickt. Ich befürchtete, dass ich an Hunter geraten könnte, und hätte nicht gewusst, was ich dann hätte sagen sollen. Doch es war Mercer, der mir antwortete.
Er sah immer noch erschöpft aus, aber die Kombination von Adrenalin und kalter Morgenluft hatte ihn ein wenig belebt.
»Gerade angekommen.« Frustriert schaute er an der Kamera vorbei. »Hunter ist noch nicht hier, aber alle sind wieder beim Bus. Er hat die Suche wirklich abbrechen lassen. Und alle wissen, dass er die Leitung hat, aber niemand hat mich bis jetzt darauf angesprochen.«
»Ah ja.«
»Aber Pete ist in Ordnung«, sagte er. »Das ist wenigstens etwas.«
»Ich hab’s gehört. Wir suchen im falschen Gebiet, Sir.«
Das ließ ihn aufhorchen. Er starrte in die Kamera.
»Erzählen Sie.«
»Ich habe gerade noch mal mit Scott gesprochen. Er erinnert sich, auf dem Weg aus dem Wald einen Fluss überquert zu haben. Nicht weit von da entfernt, wo er gefangen gehalten wurde.«
Sobald ich zu sprechen anfing, wandte sich Mercers Aufmerksamkeit schon wieder vom Bildschirm ab. Ich nahm an, dass er auf die Karte schaute. Auch ich sah darauf, und wir sahen es beide zur selben Zeit.
»Dort.«
Ein kleiner Bereich nördlich des Flusses. Es war schwierig, es anhand der wenigen Details der Anzeige genau zu erkennen, aber es sah aus wie eine Lichtung zwischen den Bäumen, mit ein paar kleinen Gebäuden. Ich klickte darauf, um mehr Informationen zu erhalten. Es gab nicht viel dazu, aber nach dem Bericht konnten sie einst Teil einer kleinen Farm gewesen sein und als Unterstand für die Tiere gedient haben.
Als ich das las, wusste ich, dass wir Jodie gefunden hatten.
»Wie geht es ihm?«, fragte Mercer.
»Ganz gut, glaube ich. Oder es wird ihm jedenfalls gut gehen, wenn wir Jodie noch rechtzeitig retten können.«
»Das werden wir auch«, sagte Mercer. »Geben Sie die Information ins System ein. Ich muss handeln, bevor Hunter hier ankommt.«
»Wird jemand von dort mit Ihnen da reingehen?«
»Irgendjemand wird schon mitkommen.«
Er sah mich einen Moment an. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte ich seine ungeteilte, volle Aufmerksamkeit.
»Danke, Mark.«
»Gern geschehen«, sagte ich. »Passen Sie auf sich auf.«
Aber er war schon weg.
Ich hatte das Fenster minimiert und wollte das letzte Gespräch mit Scott oder jedenfalls das letzte, das ich heute Nacht mit ihm geführt hatte, ins Intranet stellen. Weitere würden in den nächsten paar Tagen folgen, aber ich hoffte, dass ich dabei Gelegenheit haben würde, ein bisschen freundlicher mit ihm umzugehen. Und bis dahin würden wir auch Jodie gefunden haben.
Es liegt nicht mehr in deiner Hand, hatte ich gedacht.
Und jetzt war es wirklich so, aber ich wusste, dass die Erleichterung, die ich spürte, nicht nur darauf zurückzuführen war.
Als ich mit Scott gesprochen hatte, war das wie eine Beichte gewesen; ich hatte mich von einer Lüge befreit, die meine Seele schon zu lange belastet hatte, und danach fühlte ich mich frei. Einesteils tat es immer noch weh, aber zumindest war ich jetzt von der Last befreit, die mich niedergedrückt und meinen Schmerz noch vergrößert hatte. Wenigstens kam jetzt ein bisschen Luft an diese Wunde.
Ich versuchte, mir Lise vorzustellen, doch es gelang mir immer noch nicht richtig. Ihr Gesichtsausdruck blieb undeutlich. Doch endlich konnte ich hoffnungsvoll an das denken, was ich dort vielleicht sehen würde. Ich konnte mir ausmalen, dass sie vielleicht lächeln würde.
Alle paar Sekunden flimmerte der Bildschirm, und die Kreise bewegten sich einen Bruchteil eines Zentimeters.
Noch nicht einmal die Hälfte des Weges war zurückgelegt. Ich brauchte etwas, um mich abzulenken, und las die E-Mails, die Greg auf Scotts und Jodies Computer gefunden hatte.
Wegen meiner Verbindung zu Scott war es irgendwie traurig und sogar peinlich, dass diese intimen Einzelheiten so öffentlich bekannt wurden. Persönliche Gedanken und Mitteilungen – alles war jetzt einfach Beweismaterial. Aber sie waren wichtig für uns. Die E-Mails wiesen auf eine Verbindung zwischen Jodie und Kevin Simpson hin und gaben uns Einblick in die Beziehung von Scott und Jodie. Ihre privaten Probleme waren von unerlässlicher Wichtigkeit für den Fall.
Die Beziehung war das Opfer.
Ich klickte die E-Mails an und las eine nach der anderen.
Die erste war von Kevin, vorsichtig formuliert und freundlich.
Wollte nur wissen, wie’s dir geht, schrieb er. Es ist ein komisches Gefühl, dass du einfach ganz aus meinem Leben verschwunden bist. Ich verstehe es, aber trotzdem ist es merkwürdig. Es ist in Ordnung, wenn du nicht antworten willst oder kannst.
Der Inhalt der Mail gefiel mir, was vielleicht einfältig war. Die Nachricht war vor etwas mehr als einem Monat geschickt worden und erweckte den deutlichen Eindruck, dass hier jemand nach einer langen Pause wieder Kontakt aufnahm. Natürlich spielte es keine Rolle, ob die Affäre lang oder kurz gewesen war, aber trotzdem fand ich es wegen Scott besser, dass sie nicht die letzten zwei Jahre angedauert hatte.
Als ich auf das Datum schaute, sah ich, dass Jodie erst nach einer Pause von über einer Woche geantwortet hatte. Ich stellte mir vor, wie sie in dieser Zeit überlegt hatte, ob sie die E-Mail beantworten oder die Dinge einfach auf sich be ruhen lassen sollte.
Mir geht’s gut, schrieb sie schließlich. Ich komme zurecht. Das Übliche, nichts Aufregendes. Aber ich hasse den Job. Was macht übrigens »unsere« Firma? Haha.
CCL, das war die Firma, die sie zusammen gegründet hatten und von der Jodie schließlich weggegangen war, um ihre Beziehung zu Scott zu retten. In den nächsten paar E-Mails ging es hauptsächlich darum, und sie sprachen über die Dinge, die sie beide nicht mitbekommen hatten. Der Firma ging es gut, teilte Simpson ihr mit.
Ich habe jetzt sechzehn Mitarbeiter. Kannst du das glauben? Ich bin Manager! Bestimmt weißt du noch, dass ich nicht einmal meine eigenen Angelegenheiten managen kann.
Zu Jodies Ehrenrettung muss man sagen, dass ihre Antworten so nett wie möglich waren, obwohl es ihr sicher wehgetan haben musste, zu hören, dass er die Firma ohne sie erfolgreich führte. Vielleicht versuchte sie einfach, sich zu beruhigen.
Ich bin stolz, dass du solchen Erfolg hast, schrieb sie. Obwohl es natürlich noch besser gegangen wäre, wenn ich dabei gewesen wäre …
Ich wollte nie, dass du weggehst, antwortete er. Ich habe dich gebeten, es nicht zu tun, weißt du noch? Eigentlich wäre »angefleht« das richtige Wort, aber das lassen wir jetzt mal beiseite.
Während die E-Mails weiter hin- und hergingen, schien Jodies anfängliche Vorsicht dieser Korrespondenz gegenüber nachzulassen, und nachdem sie eine Weile um ihre Vergangenheit herumgeredet hatten, wurden sie beide lockerer. Jodie schien erleichtert, sich aussprechen zu können; der Austausch wurde häufiger und die Mails länger. Zuerst stand das Bedauern, dass sie CCL verlassen hatte, mehr im Hintergrund und kam erst allmählich zutage, als sie anfing, mehr über ihr eigenes Leben zu sprechen.
Ich komme zurecht, hatte sie zuerst geschrieben, doch in ihren späteren Nachrichten nahm sie diese Lüge auseinander.
Ich hasse meine Arbeit. Den ganzen Tag gebe ich nur Zahlen ein und bekomme sehr wenig Geld für dieses Privileg. Aber ich will ja eh nichts tun. Alles kommt mir so grau und zwecklos vor. Bald werde ich dreißig, und ich habe nichts.
Diese Bemerkung – ich habe nichts – hob sich von den anderen ab und bestimmte den Tonfall der späteren Mitteilungen. Jodie schrieb, als hätte sie die meisten der für sie wichtigen Dinge im Leben aufgegeben und sei jetzt nicht sicher, ob es das für die wenigen, die noch übrigblieben, wert gewesen sei.
Unwillkürlich wand ich mich wegen Scott, als ich das las. Im Lauf der Nacht war es unvermeidlich gewesen, dass ich ihm näherkam. Ich musste mich zwingen, unparteiisch zu bleiben. Im Augenblick wollte ich auch Jodies Gefühle verstehen und mit ihr fühlen.
Und ich konnte mir vorstellen, wie ihr zumute gewesen sein musste. Die eine Nacht mit Simpson war ein schrecklicher Fehler gewesen. Ein Fehler, für dessen Überwindung sie damals wahrscheinlich alles getan hätte. Die Firma aufzugeben, muss ihr dafür wie ein relativ kleines Opfer vorgekommen sein. Doch dann verging die Zeit. Und jetzt zahlte sie noch immer dafür, obwohl ihr Fehler vergangen, vergessen und vergeben war. Wenn man etwas Wichtiges aufgibt, fehlt es einem aber jeden einzelnen Tag des Lebens, an dem man es nicht mehr hat. Da sie mit ihrer Arbeit und ihrem Leben unzufrieden war, hatte Jodie wohl das Gefühl gehabt, sie würde für ein Vergehen bestraft, das schon längst vergangen und vorbei war.
Wie geht es mit Scott?, fragte Simpson.
Dies war nur ein unwichtiger Nebensatz am Ende einer Mail, eine einfache Frage unter allen anderen. Aber Jodie schoss sich sofort darauf ein, als seien die anderen Dinge, die er schrieb, nur störendes Beiwerk gewesen, um das wirkliche Thema zu überdecken.
Vielleicht war das aus meiner Sicht nur im Nachhinein erkennbar. Wenn man zurückschaut und weiß, wie es ausgehen wird, sieht alles nach Schicksal aus.
Ihm geht’s gut, schrieb sie. Er macht einfach so weiter wie immer. Er merkt nichts. Aber ich kann mit ihm nicht darüber reden und weiß nicht, was ich sagen sollte, selbst wenn ich es könnte. Ich weiß nicht, was los ist. Es ist dumm, aber ich fühle mich überhaupt nur noch wie ein Nichts.
Das solltest du nicht sagen. Liebst du ihn?
Danach war eine Pause eingetreten. Sie hatten sich inzwischen ungefähr einmal am Tag ausgetauscht, aber es verging fast eine Woche, bevor Jodie endlich antwortete:
Ich glaube, ich liebe ihn noch. Es ist nur, sonst liebe ich einfach gar nichts. Im Moment ist mir alles viel zu langweilig. Es gibt nichts mehr in meinem Leben. Wenn sich nichts ändert, wird es ewig so weitergehen, und wenn ich daran denke, muss ich einfach ins Bett gehen oder so. Ich kann mich der Welt nicht stellen. Und wenn ich dann wieder aufstehe, ist es immer noch genauso.
Diese Nachricht war vor nicht ganz einer Woche geschickt worden. Simpsons Antwort kam am gleichen Tag:
Du klingst so unglücklich, Jodie, und das tut mir wirklich leid. Sollen wir uns mal treffen? Nur als alte Freunde, das verspreche ich dir – ich bin jetzt über all das hinweg. Du könntest vorbeikommen, ich mach uns einen Kaffee, und wir können reden. Manchmal hilft es, ein paar mitfühlenden Ohren was vorjammern zu können, und ich werde mich ehrlich bemühen, dir den bestmöglichen Rat zu geben. Ich hab keine Tagesordnung festgelegt.
Als ich dies las, bekam ich allmählich ein komisches Gefühl. Ich starrte so intensiv auf den Bildschirm, dass der alte Umkleideraum um mich herum fast versank. Mit gerunzelter Stirn lehnte ich mich zurück. Es waren nur noch ein paar weitere E-Mails zu lesen, und die erste war von Jodie.
Okay, schrieb sie. Ich glaube, ich würde dich gern sehen. Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich Scott anlügen muss, aber ich glaube, es könnte mir guttun. Ich weiß nicht. Kannst du dir morgen freinehmen? Obwohl ich das frage, bin ich sicher, dass einer deiner sechzehn Sklaven die Stellung für dich halten wird! Ich könnte mich krankmelden und vorbeikommen. Wäre das in Ordnung?
Und dann eine letzte Mail von Simpson:
Das kann ich machen, sicher. Ich steh früh auf, komm also irgendwann vorbei. Wenn ich nichts von dir höre, erwarte ich dich, aber mach dir keine Sorgen, wenn du es nicht schaffst. Die Kaffeemaschine steht schon bereit! Hoffe, dass ich dir helfen kann. Mach’s gut, Kevin x
Ich sah in der Akte nach, ob noch mehr angekommen waren, doch das war alles. Das war ihr kompletter Austausch von E-Mails.
Mein Stirnrunzeln hielt an.
Es waren im Lauf der Untersuchung viele Vermutungen angestellt worden, und eine davon war, dass Jodie und Kevin eine Affäre hatten. Aber eigentlich hatten wir dafür keine Beweise, wir hatten es lediglich aus den Worten des Mörders auf der Tonbandaufnahme geschlossen und aus der Tatsache, dass Jodie den Tag vorher bei Simpson gewesen war.
Diese E-Mails bestätigten unsere Vermutung nicht. Die letzte Nachricht würde sie, aus dem Zusammenhang gerissen, belasten, deshalb vermutete ich, dass es diese E-Mail war, die der 50/50-Killer Scott gezeigt hatte. Doch als Teil des ganzen Mailwechsels war sie harmloser, als sie schien. Vielleicht hatte Jodie Kevin nur besucht, um einfach Probleme mit einem alten Freund zu besprechen, dem sie nicht die ganze Vorgeschichte zu erzählen brauchte.
Ich verspürte eine plötzliche Nervosität. Hier ging es um etwas Wichtiges, aber ich war nicht sicher, um was. Ich klickte mich noch einmal durch die E-Mails.
Sollen wir uns mal treffen?, hatte Kevin geschrieben. Nur als alte Freunde, das verspreche ich dir – ich bin jetzt über all das hinweg.
Und vorher:
Ich wollte niemals, dass du weggehst … Eigentlich wäre »angefleht« das richtige Wort, aber lassen wir das jetzt beiseite.
Nein, dachte ich, das lassen wir nicht beiseite. Warum hast du sie angefleht, nicht zu gehen?
Die Antwort kam eine Sekunde später, mit den Worten des Mörders.
Du meinst, du liebst sie, oder?
Mir wurde klar, dass das, was vor zwei Jahren geschehen war, für Jodie nur ein dummer Fehler im Suff gewesen war. Für Kevin Simpson jedoch war es mehr gewesen. Sie waren vom Studium her befreundet, waren später Kollegen gewesen, und das war ihm nicht genug. Was passiert war, war genau das, was er gewollt hatte.
Behutsam legte ich diesen Gedanken hin und bemerkte mit düster-freudiger Erregung, dass er genau passte. Ich war noch nicht sicher, was für ein Bild sich da zusammensetzte, aber ich saß einfach still da und ließ meinen Gedanken freien Lauf.
Kurz danach beugte ich mich vor und öffnete das Foto des Spinnennetzes, das in Simpsons Haus an die Wand gemalt worden war. Wenn Mercer recht hatte, dann sah der Mörder die Beziehung zwischen Kevin und Jodie genauso, sie war das »Opfer«, hinter dem er her war. Doch wenn ich recht hatte, dann hatte es eine Beziehung als solche gar nicht gegeben oder jedenfalls keine, die von beiden Seiten akzeptiert wurde.
Und das war nicht der einzige Unterschied zu den früheren Verbrechen. Es ging auch um die Regeln dieses Spiels. Jodie hätte nicht leiden müssen, um Kevin Simpson zu retten. Ja, sie hatte nicht einmal gewusst, dass eine Entscheidung zu treffen gewesen war.
Ich hatte angenommen, dass der 50/50-Killer Folter bei der Person anwendete, die die Wahl hatte, um sie dazu zu bringen, dass sie sich anders besann. Entweder wegen des eigenen Schmerzes oder wegen der Schuldgefühle und des Kummers ihres Partners. Aber trotz der Folter hatte es hier kein Hin und Her gegeben, keine Gelegenheit, sich anders zu entscheiden, oder für einen Rollentausch des Opfers. Warum? Hatten die Unterschiede in der Beziehung diese geänderten Spielregeln erforderlich gemacht? Ich versuchte, mir über die Auswirkungen dieser Idee klar zu werden. Was hatte er vor?
Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung auf dem Bildschirm, die Kreise kamen stetig, aber langsam voran. Sie hatten etwas mehr als die Hälfte des Weges hinter sich.
Nicht darauf achten.
Eindrücke und Ideen wirbelten in meinem Kopf herum wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel. Irgendetwas musste sich lange genug niederlassen, damit ich es erkennen konnte. Ich starrte die Zeichnung des Spinnennetzes an und rieb mir dabei das Kinn.
Ich stand kurz davor, zu begreifen.
4. Dezember
1 Stunde bis Tagesanbruch
6:20 Uhr
Jodie
Vorsichtig.
Sie drehte die Ohrhörer in der Hand herum. Ihre Geschicklichkeit war ziemlich eingeschränkt. Eine intensive, betäubende Kälte in ihrer Haut hätte sie sogar ohne Handschellen behindert. Außerdem konnte sie im Halbdunkel kaum sehen, was sie tat.
Aber wenigstens wusste sie, was sie vorhatte.
Jodies Puls flatterte. Verhaltene Erregung flammte immer wieder hinter ihrer Lunge auf, und sie musste dem Drang widerstehen, zu schreien oder sogar laut herauszulachen. Seit sie auf die Idee gekommen war, konnte sie gar nicht schnell genug damit anfangen. Der Mann da draußen konnte jeden Moment aufwachen. Am liebsten hätte sie die verlorene Zeit zurückgeholt und sich selbst zurückgehalten – einfach dazuliegen und Musik zu hören, total verschreckt und voller Selbstmitleid! Er konnte schon seit Stunden da draußen schlafen. Sie hatte so viel Zeit damit verschwendet, sich schuldig, hilflos und verängstigt zu fühlen. Aber es brachte nichts, so daran zurückzudenken.
Der Ohrhörerknopf war wie ein kleiner ovaler Stein. Sie ließ ihn durch die Finger gleiten.
Normalerweise würde er in ihr Ohr passen und dort festsitzen. Das Kabel lief in einem Y zusammen, dessen eine Seite etwas länger war als die andere. Unten hing der Stecker, der in den iRiver passte.
Den hatte sie schon herausgezogen und das Gerät weggelegt. Dann hatte sie sich neben den aufgestapelten Steinplatten hinten im Lagerraum hingekniet und das kürzere Kabelstück über die schärfste Kante eines Steins, die sie finden konnte, hin und her gezogen. Hatte die dünne Plastikschicht und dann den Draht durchtrennt, indem sie ihn so lange am Stein rieb, bis er immer dünner wurde und sie den Ohrstöpsel abreißen konnte.
Jetzt kauerte sie neben der Tür und hatte etwa einen Meter Kabel mit einem festen Plastikhaken am Ende.
Wieder spähte sie durch den Türspalt. Der Mann schien sich nicht bewegt zu haben. Er lag immer noch da, wo er vorher gewesen war, und anscheinend schlief er. Anscheinend. Sie wusste es nicht sicher, weil sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Vielleicht war er nur von dem Feuer fasziniert und starrte gedankenverloren in die Flammen. Oder vielleicht wartete er darauf, dass sie irgendetwas versuchte.
Aber der Scheißkerl konnte sie mal. So oder so, sie würde es herausfinden.
Mach einfach weiter, sagte ihr die Stimme.
Sie klang jetzt viel selbstbewusster, aber sie hatte auch jedes Recht dazu. Als sie sich auf den behelfsmäßigen Sitzplatz hatte fallen lassen, hatte die Stimme sie immer wieder beruhigt, dass sie noch nicht erledigt sei, sondern sich doch einmal überlegen solle, was sie alles wisse. Auch wenn sie selbst überzeugt sei, dass es keine Möglichkeit gab, hätte sie vielleicht doch unrecht. Es könnte eine kleine Einzelheit sein, die sie nicht beachtet hatte. Eine Schwachstelle in seinem Plan, eine Gelegenheit. Ihr Leben würde durch diese Kleinigkeit entweder gerettet werden oder verloren sein.
Vor Jahren hatte sie einmal eine Sendung über Serienmörder gesehen. Da war einer gewesen, seinen Namen wusste sie nicht mehr, der seine Opfer entführte und lange gefangen hielt. Im Lauf der Zeit wurden sie fügsam und unterwürfig, bereit alles zu tun, um dem Menschen, der sie entführt hatte, zu gefallen, obwohl das Endresultat immer dasselbe war. Der Polizist hatte vor der Kamera ruhig erklärt, dass eines der Fotos, das sie entdeckt hatten, ein Opfer zeigte, das, ohne Fesseln und ungehindert, demütig dasaß, während der Killer den Daumen in seine Augenhöhle gedrückt hielt. Aber das würde bei ihr nicht so laufen, verdammt noch mal.
Also war sie alles noch einmal durchgegangen, so gut sie konnte.
Das leere Grundstück.
Die Fahrt im Lieferwagen.
Den Weg durch den Wald.
Ihr Ausrutschen, als sie fast gestürzt wäre.
Das Eingesperrtsein hier drin.
Scotts Schreie.
An diesem Punkt hielt sie inne, denn sie war überzeugt, etwas vergessen zu haben. Sie ging noch einmal etwas zurück.
Hier drin eingeschlossen zu sein. Es hatte etwas damit zu tun. Sie versuchte, sich so gut wie möglich jede Empfindung ins Gedächtnis zu rufen, aber sie erinnerte sich nur an ein paar allgemeine Eindrücke. Die Stimme hatte ihr die ganze Zeit gesagt, sie solle alles beobachten, und das hatte sie getan. Wo war die Stimme jetzt, wo sie sie brauchte?
Sie überlegte noch einmal und versuchte verzweifelt, sich zu erinnern.
Die Antwort kam eine Sekunde später. Sofort ging sie wieder zur Tür hinüber, kniete sich auf den kalten Stein und suchte die Ränder ab. Sie war nicht mehr an dem Loch im Holz interessiert, sondern untersuchte die gleiche Seite ein wenig weiter unten.
Die Antwort lag in dem, woran sie sich nicht erinnerte. Kein Vorhängeschloss. Keine Kette.
Und doch war die Tür irgendwie gesichert.
Dort. Sie hatte nicht in den Spalt zwischen Tür und Rahmen fassen können, um es zu finden, aber im Licht des Feuers hatte sie es im Umriss sehen können. Ein dünner schwarzer Strich verlief außen quer über die Tür. Das war das Schloss. Ihr Puls schlug schneller.
Jodie hatte sich einen Moment hingehockt und ihre Erinnerung erforscht. Sie hatte sich geduckt und war unbeholfen in den Lagerraum hineingekrochen. Was noch? Nach und nach überzeugte sie sich davon, was sie auf dem Weg hier herein gesehen hatte.
Eine Öse aus rostigem Eisendraht, die am Stein befestigt war. Ein alter schwarzer Haken an der Tür selbst.
Und die Erregung hatte sie beflügelt.
Jetzt spähte sie noch ein letztes Mal durch das Loch, um sicherzugehen, dass der Mann sich nicht bewegt hatte. Er war noch dort, schlief immer noch, wenn er denn wirklich schlief. Jetzt oder nie.
Vorsichtig … sehr vorsichtig … Jodie steckte den Ohrhörer in das Loch. Die Tür war dick, doch das Loch war groß genug, dass sie den Zeigefinger hineinstecken konnte, und so schob sie zuerst den Ohrknopf hindurch. Als er durch war, fädelte sie den Draht hinterher. Es ging langsam. Der Ohrknopf blieb an der rauhen Außenseite der Tür hängen, das Kabel warf sich zur Schlinge, aber sie fädelte es weiter durch, und schließlich löste es sich durch die Spannung und sein Eigengewicht. Der Ohrknopf klapperte ein bisschen, und sie zuckte zusammen.
Mach weiter.
Immer mehr Kabel.
Sie hielt den Stecker fest, der in den iRiver gehörte. Als das Kabel fast ganz durch war, drückte sie ihr Gesicht wieder gegen die Hand und spähte, so gut sie konnte, durch das Loch.
Der Mann war weg.
Nein!
Ungläubig starrte sie hinaus. Da war nur das Feuer, das knackte und allmählich erlosch, und die zerwühlte Decke, auf der er gelegen hatte. Es war zu spät.
Beruhige dich. Denk nach.
Okay, sagte sie sich. Fußspuren, sie müsste seine Spur im Schnee sehen können. Keine verlief in ihre Richtung, und deshalb hatte er das Kabel an der Tür bestimmt nicht bemerkt. Hätte er es bemerkt, wäre er dann nicht schon hier? Frische Fußstapfen gingen nach links zur gegenüberliegenden Seite, wo Scott festgehalten worden war. Ihrer Erinnerung nach war das auch der Weg aus dem Wald hinaus. Es führte keine neue Spur in diese Richtung. Er war also tiefer in den Wald gegangen, wohin auch immer.
Sie lauschte. Nichts.
Er ist aufgewacht, ist ein Stück in den Wald gegangen.
Langsam zog Jodie das Kabel wieder zurück. Der Ohrhörer war oval und gekrümmt, fast wie ein Haken. Wenn er in ihrem Ohr hängen konnte, dann konnte er auch …
Das Kabel blieb hängen. Sie holte tief Luft und hoffte, dass sie sich richtig erinnerte. Dass dort kein Riegel am Türrahmen war. Sie zog fester.
Einen Moment lang geschah nichts. Dann hörte sie ein leises Quietschen von altem Eisen, als der Haken sich aus seiner Öse löste. Sie drückte gegen die Tür, und sie ging auf.
Ja!
Sie stolperte hinaus. Der freie Raum war ein Schock, aber auch eine Kostbarkeit. Ihr Herz hämmerte. Jetzt, wo sie ihre Freiheit hatte, musste sie alles tun, sie zu behalten.
Die Lichtung war kleiner, als sie gedacht hatte, wahrscheinlich waren es nicht mehr als fünfzehn Meter bis zum Waldrand am hinteren Ende. Das Feuer dazwischen war auch näher als erwartet, und seine Hitze wärmte sie sofort. Rechts stand ein anderes altes Steingebäude. Links führten die Fußstapfen zu den Bäumen hinüber. Dahinter war zwischen den Bäumen alles dunkel. Der Wald war ruhig und friedlich, kaum ein Geräusch. Doch eine leichte Morgenbrise fuhr über die Flammen und ließ ihre Haut eiskalt werden.
Das Feuer knackte.
Lauf weg.
Doch sie konnte nicht weglaufen. Scott war vielleicht noch am Leben, in dem anderen Lagerraum, und selbst wenn er nicht dort war, konnte sie es nicht über sich bringen, ihn einfach hier zurückzulassen. Sie liebte ihn, und er hatte das nicht verdient. Wenn sie konnte, musste sie sich – jetzt, wo sie es konnte – um ihn kümmern.
Jodie ging zum Feuer hinüber. Viel davon war schon heruntergebrannt, aber ein Bündel in der Mitte brannte noch. Sie kauerte sich daneben und wühlte vorsichtig an den Rändern in der Asche.
Sie nahm ein Stück Holz auf und warf es zur Seite. Dann ein zweites.
Dies hier würde gehen. Es war so dick wie ihr Handgelenk und etwa einen halben Meter lang. Stabil und spitz. Das Ende war rußig, aber an manchen Stellen glühte es rot. Benzin, dachte sie.
Da war es, durch eine der Steinsäulen vor den Flammen geschützt. Sie ging darum herum und hob den Kanister hoch. Halb voll.
Da erblickte Jodie ihn. Sie erstarrte.
Der Mann mit der Teufelsmaske stand zur Linken zwischen den Bäumen, ungefähr zehn Meter entfernt. Er hielt das Messer in der Hand und starrte sie an. Trotz der Maske konnte sie erkennen, dass er verblüfft war, sie frei hier draußen zu sehen.
Sie stand langsam auf. Das Benzin in der einen Hand, den schwelenden Ast in der anderen. Sie musste beide eng nebeneinander halten, es war schwierig, wegen der Handschellen.
Er sagte nichts, sondern machte einen zögernden Schritt auf die Lichtung hinaus. Sie wich entsprechend einen Schritt in Richtung der anderen Steinhütte zurück.
Lauf weg.
Nein. Dafür war es zu spät. Sie könnte niemals schneller laufen als er.
Und was immer auch geschehen würde, nach allem, was sie getan hatte, würde sie Scott nicht verlassen.
4. Dezember
50 Minuten bis Tagesanbruch
6:30 Uhr
Mark
Ich öffnete das Foto, das von der Wand in Carl Farmers Haus gemacht worden war, und zog das Fenster neben das andere Bild, das von dem Spinnennetz in Kevin Simpsons Wohnung. Das Erste, was mich anzog, war das Gedicht.
In der Zeit zwischen den Tagenverlort ihr den betrübten Hirten der Sterne.Der Mond ist gegangen,und die Wölfe des Alls kommen näher,werden wagemutigund holen sich die Schafe seiner Herde –eins nach dem andern.
Vorhin hatte ich mich nach dem geistigen Umfeld gefragt, in dem er lebte, und versucht, mir vorzustellen, wie er die Welt sah und welcher geistige Filter ihn dazu brachte, menschliche Beziehungen in solche zerfetzten Objekte zu verwandeln.
Das Gedicht an der Wand hatte noch immer nicht als Werk eines Lyrikers identifiziert werden können, deshalb nahmen wir vorerst an, dass der 50/50-Killer es selbst geschrieben hatte. Als solches war es eine der wenigen Möglichkeiten, sich Einblick in seinen Geisteszustand zu verschaffen.
Ich starrte die Worte an. Überall um sie herum waren die Spinnennetze wie Trophäen an die Wand gemalt.
Die Wölfe des Alls.
Offensichtlich lag dem Gedicht ein religiöses Element zugrunde, allerdings weit entfernt von jeder konventionellen Religion. Und dann die Teufelsmaske, dachte ich. Er benutzte sie nicht nur, um seine Opfer zu erschrecken oder seine Identität zu verbergen, sondern wegen der Bedeutung, die sie für ihn selbst hatte.
Ich überlegte, sah er sich selbst als Dämon? Als eine kalte, berechnende Kraft des Bösen?
Er studierte die Paare so lange. Er hörte ihnen zu, beobachtete sie und arbeitete sorgfältig seine Zeichnungen aus. Er machte Pläne.
Das hier sind seine Notizen.
Er holte sie aus der Herde heraus, einen nach dem andern. Wenn er sie endlich aufsuchte, ging er genauso systematisch vor. Er sprach ruhig und sanft mit seinen Opfern, beruhigte sie auch dann noch, wenn er ihnen Schnitt- und Brandwunden beibrachte. Keine Emotionen. Er zog keinen unmittelbaren Genuss aus der Folter und dem Schmerz. Es gab kein sexuelles Element. Ihn interessierten die Menschen nicht. Eigentlich attackierte er weniger sie als vielmehr die Beziehung, die sie verband, und die Methoden, die er einsetzte, waren nur Mittel zum Zweck, um von ihnen zu bekommen, was er wollte.
Ich starrte auf den Bildschirm.
Um von ihnen zu bekommen, was er wollte.
Viele der Entwürfe, an denen er gearbeitet hatte, selbst die letzten Versionen der Spinnennetze, waren vollkommen und intakt. Die Linien waren nicht unterbrochen, es gab keine Querstriche oder verschmierte Stellen. Doch wenn er mit seinen Opfern fertig war, waren die Zeichnungen zerstört. Und so nahm er ihre Beziehung nicht mit sich fort, sondern ließ sie zerbrochen dort an der Wand hängen. Was er mitnahm, war die Differenz zwischen den beiden.
Er nahm ihnen die Liebe.
Ich starrte weiter auf den Bildschirm und hoffte, die Lösung zu finden.
Das war der Grund für die Möglichkeit, zu wählen. Durch die Folter wurde ein Partner eines Paares gezwungen, den anderen aufzugeben. Und dann wurde dieser körperlich und emotional so gequält, dass sie, wenn sie endlich den Gnadenstoß bekamen, in dem Wissen starben, dass der Mensch, den sie liebten, sie dazu verdammt hatte.
Rear don isolierte diejenigen, die er ermordete, und vernichtete die Beziehung in ihrem Kopf. Er zerstörte jede Illusion von der Liebe, die sie zu besitzen glaubten, und raubte sie ihnen.
Das war der Grund. Reardon hielt sich wirklich für eine Art Teufel. Und nach seiner Ansicht tat er das Werk des Teufels: Er löschte die Liebe aus der Welt, Stück für Stück, verdarb sie und verleibte sie sich ein. Sammelte sie.
Ich brauchte die Tonaufnahme nicht noch einmal zu öffnen, um mich an sein schreckliches Geräusch zu erinnern, als Kevin Simpson starb, dieser saugende Laut beim Einatmen. Damals war es mir vorgekommen, als ziehe er Simpsons Seele zwischen den Zähnen in sich hinein. Jetzt war ich überzeugt, dass ich näher dran gewesen war, als ich gedacht hatte.
In seinem Kopf hatte der Killer die Liebe eingefangen, die Simpson früher einmal für Jodie zu empfinden geglaubt hatte.
Stell sie dir jetzt vor. Stell dir vor, wie sie friedlich in den Armen ihres Freundes schläft.
Die unbestimmte Erregung in mir war stärker geworden. Warum war das Spiel mit Kevin Simpson so einseitig gewesen? Weil die Beziehung einseitig war. Der Mensch, der etwas hatte, was der Killer wollte, war Simpson selbst. Er war derjenige, der Jodie liebte, und er wusste, dass sie nicht dasselbe für ihn empfand. Sie hatte ihn benutzt und war gegangen.
Das ganze Spiel mit den E-Mails diente dem Mörder dazu, Simpson klarzumachen, dass er seine Liebe zerstören würde, damit er sie ernten konnte. Und um das zu tun, brauchte er Jodie nicht vor Ort.
Ich hoffe, du verstehst jetzt, wie dumm du warst. Wie wenig sie alles verdient hat, was du in sie investiert hast.
Der Täter hatte es ihm ausdrücklich gesagt und ihm dann seine zerstörten Gefühle genommen.
Langsam atmete ich tief aus, lehnte mich auf dem Stuhl zurück und rieb mir die Augen. Ich war sicher, dass ich recht hatte.
Auf dem Monitor hatte die kleine Schar von Kreisen das Flüsschen erreicht. Mercer würde bald dort sein. Wenn seine Theorie stimmte, würde er sehr bald auf Reardon stoßen, den Wolf des Alls, und mir lief bei dieser Aussicht ein Schauer über den Rücken. Aber er hatte vier gut ausgebildete Männer bei sich. Er hatte Erfahrung. Statt mich um ihn zu sorgen, zwang ich mich, ihn zu drängen. Komm rechtzeitig an. Rette Jodies Leben. Hindere diesen Mann an seinem Tun.
Reardon ist nur ein Mensch. Er ist in Wirklichkeit kein Teufel.
Und so musste ich die ganze Zeit denken.
Egal, wie der 50/50-Killer sich selbst sah, in Wirklichkeit war er James Reardon, ein schwacher Mensch, und es würde klare und verständliche Gründe für das geben, was er tat. Ursache und Wirkung. Keinesfalls Rechtfertigungen, aber Erklärungen.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf minimierte ich das Foto der Spinnennetze, öffnete die Akte über James Reardon und begann die Einzelheiten durchzugehen und nach Mustern unter der Oberfläche zu suchen.
4. Dezember
45 Minuten bis Tagesanbruch
6:35 Uhr
Jodie
Nur eine einzige Gelegenheit, hatte sie sich vorhin gesagt, mehr brauchte sie nicht. Eine einzige Lücke in seinen Plänen, die sie nutzen konnte. Die Stimme hatte sie die ganze Nacht darauf vorbereitet, aber jetzt, wo die Gelegenheit da war, hatte sie sie allein gelassen. Sie in der Stille zurückgelassen.
Jodie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Ihr Kopf war leer.
Sie wich zurück, auf den verschlossenen Schuppen zu. Der Mann mit der Teufelsmaske machte ein paar vorsichtige Schritte auf sie zu.
»Bleib zurück«, warnte sie.
Sie drückte auf den Benzinkanister und schwang ihn in seine Richtung. Ein Strahl landete nicht weit vor seinen Füßen im Schnee.
Er blieb stehen, wo er war, und streckte die Hand aus.
»Gib das her.«
Sie schaute hinter sich, um nicht zu stolpern, und wich dann zurück, bis sie fast die Tür des Schuppens berührte. Jetzt war sie da, hatte sich festgelegt. Sie würde ihn nicht wieder in Scotts Nähe lassen.
Der Mann hielt die Hand ausgestreckt, als würde sie sich bestimmt anders besinnen, zur Vernunft kommen. Nachdem er den Schock überwunden hatte, sah sie jetzt, dass er wütend war. Wirklich wütend. Es waren die ersten Emotionen, die sie bei ihm gesehen hatte, und sie dachte: Gut. Sei nur wütend, du Scheißkerl. Sie hasste ihn. So große Angst sie auch hatte, sie wollte ihm trotzdem wehtun, als Rache für das, was er getan hatte. Ihn umbringen, wenn sie konnte. Ihn in Stücke reißen.
Komm nur her und sieh, was du kriegst.
Das Benzin und das brennende Stück Holz mochten ausreichen, ihn fernzuhalten, doch sie konnte ihn nicht davon abhalten, in Bewegung zu bleiben, wenn sie ihn nicht direkt angriff.
Er umkreiste sie langsam und versuchte, sich ihr von der anderen Seite des Feuers aus zu nähern. Die Flammen verdeckten ihn einen Moment, sie konnte nur das Gesicht des Teufels sehen, und dann war er am Feuer vorbei und wieder sichtbar.
Langsame, vorsichtige Bewegungen.
Er blieb am Rand der Lichtung stehen, und ihr wurde klar, dass er es geschafft hatte, ihr den Fluchtweg abzuschneiden. Sie konnte trotzdem versuchen, in Richtung Stadt zu laufen, aber jetzt war er ihr noch näher als vorher. Sie würde mehrere Meilen durch den Wald laufen müssen, und er würde ihr dicht auf den Fersen sein. Wenn sie vorher eine Chance gehabt hatte, es zu schaffen, jetzt war sie dahin.
Jodie behielt den Mann im Auge, griff nach hinten und zog an der Tür. Vielleicht lebte Scott noch, und sie konnte ihn da rausholen. Vielleicht hatten sie zusammen eine Chance, sich gegen diesen Mann zu wehren.
»Leg das weg.«
Sie schüttelte den Kopf.
Der Mann hatte Mühe, sich zu beherrschen.
»Geh wieder in den Schuppen.«
»Du kannst mich mal.«
»Wenn du wieder da reingehst«, sagte er und knirschte wütend mit den Zähnen, »dann können wir beide so tun, als sei dies nie geschehen.«
Die Tür ging nicht auf. Sie warf einen kurzen Blick nach hinten – an dieser Tür war ein Riegel – und sah dann sehr schnell wieder zu dem Mann hinüber.
Inzwischen war er einen Schritt auf sie zugekommen.
Die Tür war besser gesichert als ihre. Sie könnte sie aufkriegen, aber nicht ohne Anstrengung und Aufmerksamkeit, wozu er ihr offensichtlich keine Gelegenheit geben würde. Sie würde dazu auch beide Hände brauchen. »Ich tu dir nichts«, sagte er.
Noch ein Schritt.
»Es ist nur ein Spiel.«
Als er das sagte, brach etwas in ihr auf. Pass auf, hatte die Stimme ihr gesagt, als Scott schrie. Nutze es, wenn du kannst. Jede schreckliche Sekunde war ihr noch präsent. Die Schuldgefühle und der Schmerz, die Hilflosigkeit und der Zorn. All dies bahnte sich seinen Weg an die Oberfläche und brach hervor.
»Scheißkerl!« Sie schleuderte es ihm mit solcher Kraft entgegen, dass sie sich dabei vornüberkrümmte. Sie wollte ihn umbringen. »Ich habe gehört, was du ihm angetan hast, du abartiger Dreckskerl!«
Ihre Arme zitterten, die brennende Spitze des Holzscheits tanzte hin und her.
»Scheißkerl?« Der Mann klang jetzt kühler. Die Maske zuckte, als sich sein Gesicht darunter verzerrte. »Was weißt du schon, du verdammte Hure? Du kapierst nicht, warum ich das tue. Du weißt nicht, was es heißt, ein Kind zu lieben.«
Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie streckte ihm das brennende Holzscheit entgegen, aber es versperrte ihr nur die Sicht. Er hatte keine Angst vor ihr, auch ihn hatte die Wut gepackt.
»Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist.«
Sie sprühte Benzin auf das Ende des Holzscheits. Es loderte hell auf.
»Bleib zurück«, sagte sie.
»Oder?«
Dann ging er auf sie los, die freie Hand ausgestreckt; in der anderen hielt er das Messer, tief und ein wenig hinter sich, bereit, damit zuzuschlagen. Halb fiel sie und halb wich sie ihm aus. Sprang zur Seite, wieder auf das Feuer zu und spritzte ihm dabei Flüssigkeit aus dem Kanister entgegen. Ich muss ihn treffen. Den Kerl umbringen.
Er hielt den Arm hoch, um seine Augen zu schützen, schlug dabei aber überraschend schnell mit der anderen Hand nach ihr. Das Messer sauste vor ihr durch die Luft.
»Komm her! Verdammte Schlampe.«
Sie hasste ihn. Er war dieses große, massive Ding, das auf sie zukam. Wieder schwang sie den Kanister, schleuderte ihm Benzin entgegen und wich über die Lichtung zurück.
Aber er rannte einfach direkt auf sie los, schnell und stark.
Das Messer hielt er wieder nach unten, und er brüllte sie wütend an – versuchte sie so zu erschrecken, dass sie zurückzucken und sich abwenden würde. Das war auch ihr erster Impuls, aber sie kämpfte dagegen an – erinnerte sich daran, wie Scott geschrien hatte – und drückte mit der linken Hand so fest zu, wie sie konnte.
Das Benzin spritzte ihm wieder in hohem Bogen entgegen, und dann knallte er gegen sie und warf sie um. Sie schlug auf dem Boden auf, bevor sie überhaupt begriff, was passiert war. Es kam ihr vor, als werde ihr die Lunge aus der Brust geschlagen, und sie versuchte zu schreien, konnte aber nicht. Schmerz. Panik – das brennende Holz lag zwischen ihnen und versengte eine Seite ihres Gesichts. Und dann hatte sich der Mann plötzlich zur Seite geworfen. Das brennende Holz verschwand mit ihm.
Sie lag vielleicht eine volle Sekunde lang da, völlig benommen von dem Aufprall und der Verbrennung. Dann – weiter! – raffte sie sich auf und rollte sich in die entgegengesetzte Richtung. Ein paar Zentimeter Sicherheit. Aber der Mann wankte über die Lichtung, weg von ihr.
Seine Vorderseite stand in Flammen.
Der Mann schlug auf seine Kleider ein, klatschte wild auf das im frühen Morgenlicht hellgelbe Stickmuster aus Flammen. Aber das Feuer war zu stark. Seine Ärmel brannten, seine Maske, sein Haar. Er schrie. Das hatte sie also mit ihm gemacht, und sie war froh darüber. Sein Haar brannte wie ein Kerzendocht.
Jodie stand auf.
Selbst jetzt, wo er in Flammen stand, hatte der Mann noch sein Messer. Sie hatte gar nichts.
Er ließ sich auf die Knie fallen, drückte sich in den Schnee und rollte hin und her. In der Morgenluft zischte und knisterte es. Rauch stieg von seinem Körper auf, als er die Flammen löschte.
Lauf.
Nein.
Stattdessen ging sie schwerfällig zu dem Feuer in der Mitte der Lichtung hinüber und trat gegen eine der Steinsäulen. Nichts, also trat sie noch einmal fester dagegen. Der Mann hatte sich auf die Hände und Knie hochgestemmt und brüllte vor Wut und Schmerz. Noch ein letzter Tritt, und alles stürzte ein. Metall quietschte, eine Wolke aus Asche, Staub und hellen orangefarbenen Funken stieg in die Luft und wärmte sie.
Du kannst mich mal, dachte sie und ergriff einen der Steine.
Er hatte ungefähr die Größe eines Backsteins. Etwa genau so schwer.
Der Mann versuchte, auf die Beine zu kommen, schaffte es aber nicht. Er fiel auf die Ellbogen.
Jodie stolperte zu ihm hinüber, den Stein gegen die Brust gepresst. Dieser Mann würde niemandem mehr wehtun. Nicht ihr, nicht Scott. Er würde niemanden mehr in den Wald entführen und quälen, und er würde für alles bezahlen, was er heute Nacht getan hatte.
Für alles würde er bezahlen.
Sie hob den Stein hoch, hielt ihn dort …
»Warte!«
… und ließ ihn schwer auf seinen Hinterkopf herunterkrachen. Sie spürte den Aufprall mehr, als dass sie ihn hörte: spürte den Rückschlag in ihren Armen und sah im Geist vor sich, wie sein Gehirn in seinem geborstenen Schädel schwappte. Er lag sofort flach im Schnee, schlaff, leer und leblos. Es war kein Blut zu sehen.
Noch mal – damit du sicher bist.
»Halt!«
Wer redete da?, dachte sie. Plötzlich packten sie Hände und zogen sie weg. Sie kämpfte gegen sie an, drehte sich um und trat nach ihnen. »Lasst mich los!«
Doch sie waren zu stark, jemand legte die Arme um sie, zog sie in eine ungestüme Umarmung und hob sie hoch. Der Stein fiel in den Schnee.
»Ist ja gut«, sagte jemand. »Ist schon in Ordnung. Wir sind von der Polizei.«
Sie trat weiter um sich, als man sie über die Lichtung zurücktrug, und warf wild den Kopf hin und her. Durch ihre Tränen sah sie einen Mann in einem riesigen schwarzen Mantel, der sich neben den Mann hinkauerte, und sie wandte schnell das Gesicht ab. Auf der anderen Seite der Lichtung waren noch mehr Männer.
Polizisten. Einer von ihnen kam mit einer großen Decke auf sie zu.
Beruhigen Sie sich.
Der Mann hinter ihr setzte sie sanft ab und nahm dann die Decke von dem anderen Polizisten. Sie zitterte immer noch, aber sie ließ zu, dass er ihr die Decke um die Schultern legte und sie vorn zusammenzog. Dann drehte sie sich um und sank gegen ihn.
Er hielt sie fest und sagte leise, beruhigende Worte zu ihr, die sie nicht richtig hörte.
Der Mann bei der Leiche sagte: »Das ist er.«
Der Polizist hielt sie noch fester. Wäre er nicht gewesen, dachte Jodie, läge sie jetzt am Boden. Aber zugleich zitterte ihr Körper immer noch unter der Wirkung des Adrenalins.
»Scott!«, erinnerte sie sich plötzlich und rückte ein wenig von ihm ab.
»Es ist okay.«
Er ließ sie los und sah in ihr Gesicht hinunter. »Scott ist in Sicherheit. Im Krankenhaus. Er hat uns geholfen, Sie zu finden.«
Jodie war verwirrt. Im Krankenhaus. Wieso im Krankenhaus? Das ergab keinen Sinn. Warum hätte der Mann ihn gehen lassen sollen? Sie sah zu dem anderen Schuppen am Ende der Lichtung hin. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass etwas daraufgemalt war. Eine Art … Spinnennetz, wie es aussah.
»Aber …«
»Es ist okay«, sagte der Mann wieder. »Wir erklären Ihnen alles später. Die Hauptsache ist, dass Sie jetzt in Sicherheit sind.«
Jodie sah zu ihm auf. Er war alt und vertrauenswürdig, aber sie hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so müde aussah. Fast schon gequält. Einen kurzen Moment war ihr merkwürdig zumute, und es kam ihr vor, als sei er jede einzelne Minute der Nacht hier bei ihr gewesen. Abgesehen von der Erschöpfung war sein Gesichtsausdruck fast väterlich. Und da war noch etwas. Er wirkte erleichtert, aber nicht nur das. Er sah friedlich aus. Sie ließ sich einfach wieder gegen ihn fallen. Im Augenblick war das einfacher.
Er nahm sie sanft in den Arm und flüsterte: »Wir haben Sie gefunden.«
4. Dezember
32 Minuten bis Tagesanbruch
6:48 Uhr
Mark
Panik.
Bevor ich meine Gedanken und Einfälle richtig in irgendeine sinnvolle Ordnung bringen konnte, hatte ich das Bild mit den Suchtrupps im Wald schon maximiert und Alarm ausgelöst. Ich wusste nur, dass ich dringend mit jemandem sprechen musste. Da war wieder dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte, nur war es jetzt hundertmal stärker und ging in eine ganz andere Richtung.
Ich wartete.
Im Büro war es unerträglich heiß und eng. Wahrscheinlich war es die ganze Zeit so gewesen, aber jetzt kam es mir zum ersten Mal richtig bedrohlich vor. Die Neonlampen summten, und das laute Klicken in den Rohren schreckte mich immer wieder auf. Ich dachte an all die Leute, die im Krankenhaus arbeiteten, und wie weit weg sie waren. Ich war hier unten allein, am Ende langer, leerer Korridore, die mit schmutzigen Plastikplanen verhängt waren. Ich sah mehrfach über die Schulter und kontrollierte die Ecken und die Tür.
Es dauerte eine Minute, bis Bates vor der Kamera erschien. Er sah müde, aber auch erhitzt und aufgeregt aus, und er sprudelte los, bevor ich irgendetwas sagen konnte: »Sir, sie haben sie gefunden.«
Ich nahm das einerseits zur Kenntnis, ging andererseits darüber hinweg.
»Ist Hunter da?«
»Er ist in die Abteilung zurückgefahren. Er ist nicht erfreut.«
»Hören Sie mir gut zu. Sie müssen die Männer dort verlegen. Ich will, dass Sie die Absperrkette an der Straße wieder aufstellen.«
Er runzelte die Stirn, dachte vielleicht, ich hätte ihn missverstanden.
»Aber sie haben ihn. Detective Mercer hat es uns aus dem Wald gefunkt. Das Mädchen ist dort, und sie haben den Kidnapper. Warum brauchen wir die Absperrkette?«
»Weil ich es Ihnen sage.« Ich sah auf die Karte. »Tun Sie es, jetzt gleich. Nach Osten und Westen, so weit wie möglich. Ich übernehme die Verantwortung dafür. Sie müssen sicherstellen, dass niemand sonst aus dem Wald herauskommt. Tun Sie das jetzt und melden sich dann wieder.«
»Ja, Sir.«
Und nennen Sie mich nicht immer Sir. Doch er war schon weg, wahrscheinlich hatte ihn der scharfe Ton in meiner Stimme angespornt.
Es war merkwürdig: Ich spürte die Panik in mir, aber an der Oberfläche war ich ruhig und stellte praktische Überlegungen an. Mein Verstand hatte fürs Erste die Führung übernommen.
Du musst die Dinge durchdenken, sagte er mir.
Tief atmen.
Schwimm mit aller Kraft.
Und dreh der Scheißtür nicht den Rücken zu.
Wenigstens hatten sie sie gefunden, das war schon mal was. Auf jeden Fall würden Scott und Jodie beide die Nacht überleben, und das war sicherlich die Hauptsache. Und sie hatten wahrscheinlich tatsächlich den Gesuchten erwischt. Es gab nichts, worüber man sich unbedingt Sorgen machen musste.
Aber wenn dem so war, würde es nicht schaden, die Absperrkette trotzdem aufzustellen. Ich blieb hartnäckig dabei, dass niemand anderem erlaubt werden sollte, diesen Wald zu verlassen, bis alles vorbei war. Niemandem. In Wirklichkeit war ich überhaupt nicht ruhig. Ich zitterte und fühlte mich, als täte sich ein riesiges Loch in meiner Brust auf. Es gab doch etwas, dessentwegen man besorgt sein sollte. Mochte man dieses Denken auch einen Sprung von A direkt nach D nennen. Mercer würde Verständnis dafür haben.
Ich warf einen Blick auf die Tür.
Scheiß drauf.
Die beste Methode, mit Angst fertig zu werden, ist, ihr direkt ins Gesicht zu sehen, es hinter sich zu bringen. Bates würde damit beschäftigt sein, die Absperrkette zu organisieren, also ging ich zur Tür hinüber, hielt aber vorsichtig inne, bevor ich auf den Korridor hinaustrat.
Niemand da. Die Lampen flimmerten immer noch und summten wie Wespen an der Decke. Das Licht im Flur blinkte manchmal.
Das ist eine Überreaktion. Es gab keinen Grund, zu glauben, dass ich in Gefahr sei. Und Scott hatte den Wachmann draußen vor seinem Zimmer.
Bates war wieder vor die Kamera gekommen.
»Sie sind unterwegs.«
»Okay.«
Was noch?
»Wir haben hier draußen alles unter Kontrolle.« Bates musterte mich neugierig. »Alles in Ordnung, Sir?«
»Alles in Ordnung.«
Doch das stimmte nicht.
Der eine Monitor zeigte die Unterlagen über Reardon, die ich zum Nachschlagen geöffnet hatte. Ich hatte sie durchgelesen, nach Hinweisen und Erklärungen gesucht, und mein Blick war an einem kleinen Detail hängengeblieben. Für sich genommen, mochte es bedeutungslos sein, aber es ließ mich innehalten. Im Lauf des kürzlich gelaufenen Sorgerechtsstreits hatte das Gericht gelten lassen, dass Reardon das Abhörgerät in dem Teddybären seines Kindes versteckt hatte. Als ich das las, erschien es mir zuerst wie die Bestätigung seiner Schuld.
Aber Reardon hatte geleugnet, es getan zu haben.
Ich überlegte einen Moment. Wenn er es getan hatte, würde er sich dann die Mühe machen, es abzustreiten? Ergab das einen Sinn – brachte es ihm etwas? Es war trotzdem wahrscheinlich, dass er verantwortlich dafür war, sagte ich mir. Aber der Gedanke war da: Was wäre, wenn es jemand anders gewesen war?
Und wenn nicht Reardon, wer dann?
Wir wussten, dass der 50/50-Killer Überwachungsgeräte einsetzte, um seine Zielpersonen zu erforschen, oft eine ganze Zeitlang. War es möglich, dass eines seiner Geräte gefunden und fälschlich Reardon zugeordnet worden war?
Wir wussten, dass er Beziehungen zerstörte. Bis jetzt hatte er es immer auf Paare abgesehen, doch das hieß nicht, dass er sein Spektrum nicht erweitert haben könnte.
Niemand versteht, wie sehr ein Vater sein Kind liebt, hatte Reardon gesagt.
Ich hatte eines der Fenster wieder geöffnet, die ich minimiert hatte: das Foto von der Wand, wo der 50/50-Killer all seine Notizen gemacht hatte. So viele der Zeichnungen waren ähnlich, deshalb hielten wir es für logisch, dass es sich um Entwürfe handelte. Aber dann fiel mir wieder ein, was er Kevin Simpson auf der Tonaufnahme gesagt hatte.
Falls dich das tröstet, Jodie und Scott sind eines von meinen Paaren.
Eines von meinen Paaren.
Und in genau diesem Moment piepste es auf dem Bildschirm. Ein neuer Bericht für die Hauptakte kam herein. Es summte förmlich in der Luft, als ich die Hand ausstreckte und sie anklickte.
Es war ein Bericht der Kriminaltechniker aus dem Wald. Der Lieferwagen war überprüft und schließlich für sicher erklärt worden, und Simon und sein Team durften hinein. Dies war ihr erster Bericht, und im Mittelpunkt des Bildschirms war ein Foto von dem zu sehen, was sie gefunden hatten. Auf der Innenwand des Lieferwagens war ein drittes Spinnennetz. Es waren also insgesamt drei.
Eines für Jodie und Kevin. Ein zweites für Jodie und Scott.
Das dritte für James Reardon und sein Kind?
Ich wandte mich der Kamera im Wald zu.
Nachdem seine Frau vorhin angerufen hatte, hatte Mercer sein Handy auf dem Schreibtisch liegenlassen. Ich nahm es jetzt und schaltete es an.
»Ich muss mit Mercer sprechen«, sagte ich. »Dringend. Stellen Sie mich zu jemandem da draußen von den Suchtrupps durch.«
4. Dezember
30 Minuten bis Tagesanbruch
6:50 Uhr
Jodie
Scott war am Leben.
Und lag in einem warmen Bett im Krankenhaus, dachte Jodie wehmütig.
Während sie in eine Aludecke gehüllt durch den Wald stapfte, war ihr kälter, als ihr ihrer Erinnerung nach im Lauf der ganzen Nacht gewesen war. Aber die Gewissheit, dass er lebte, fühlte sich genauso schön und wärmend an wie die Aludecke.
Der Polizist, er hieß John, hatte gesagt, sie könnten beim Feuer im Wald warten und sich von dem Hubschrauber abholen lassen, aber sie hatte den Kopf geschüttelt. Sie musste von hier weg, nicht zuletzt seinetwegen. Der Mann lag einfach da. Nach dem, was er Scott angetan hatte, war Jodie froh, dass sie ihn getötet hatte. Doch sie konnte ihn nicht länger ansehen.
Sie wusste auch, dass das viel mit dem Zittern und Beben ihres Körpers zu tun hatte. Schock. Und es kam auch daher, dass ihr langsam warm wurde. Während der Nacht war die Kälte in ihren Körper eingedrungen und hatte ihn taub werden lassen, bis sie so wenig Gefühl hatte, dass es nicht einmal mehr schmerzte. Jetzt taute sie auf und durchlief wieder das Stadium, in dem ihr eiskalt war. Schmerz und Unbehagen kehrten zurück.
Aber du lebst, sagte sie sich. Und Scott auch. Egal, was sonst noch sein mag, wir sind jetzt beide in Sicherheit. Hör auf, dir Sorgen zu machen. Hör auf, dich dafür schuldig zu fühlen, was du getan hast. Wir sind beide am Leben.
Ihr Herz schien nicht mit dem Gefühl der Hochstimmung zu Rande zu kommen, das diese Gedanken auslösten. Sie fühlte sich so zerbrechlich wie ein Vogel. Deshalb hielt sie diese Gedanken unter Kontrolle und konzentrierte sich lieber auf den Weg. Jeder Schritt im tiefen Schnee knirschte, als lehnte sich jemand auf einem Ledersessel zurück. Es war tröstlich, von diesem schrecklichen Ort fortzugehen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Der Polizist direkt vor ihr leuchtete mit einer Taschenlampe, doch das war fast nicht mehr nötig. Die aufgehende Sonne ließ den Wald ringsum zu stillem grauem Leben erwachen. Auf den Bäumen zwitscherten die Vögel. Es war früher Morgen, ein neuer Tag.
John ging dicht genug hinter ihr, dass sie sich unterhalten konnten. Für Jodie war seine Gegenwart ein ungeheurer Trost. Er sagte immer wieder Dinge, die sie nur halb verstand, die sie aber trotzdem beruhigten. Vielleicht war es albern, aber sie konnte nicht anders, als sich vorzustellen, die Stimme, die sie die ganz Nacht gehört hatte, wäre seine gewesen, voller Güte, Trost und ruhiger Ermutigung. Du wirst es schaffen, hatte er immer wieder gesagt. Halt durch, verlier nicht den Mut. Ich werde dich finden. Und das hatte er auch getan. Als er sie umarmt hatte, hatte sie irgendwie begriffen, dass er sie schon die ganze Nacht suchte. An seinem Gesicht sah sie, dass er ein geplagter und leidgeprüfter Mann war, sich aber geweigert hatte, sich aufhalten zu lassen oder aufzugeben. Jetzt schien er endlich mit sich im Reinen zu sein.
Jodie hörte ein elektronisches Knacken hinter sich und schrak zusammen.
»Mercer.«
Sie blickte zurück und sah, dass John in das Mikrofon an seinem Kopfhörer sprach. Alles in Ordnung. Die drei gingen weiter.
»Mark«, hörte sie ihn sagen. »Beruhigen Sie sich. Er ist tot. Jodie ist in Sicherheit. Sie ist hier bei mir. Wir sind auf dem Weg aus dem Wald.«
Während seine Worte vorher mehr wie ein Geräusch an ihr vorbeigezogen waren, hörte sie diesem Gespräch aufmerksamer zu.
Er schwieg, dann sagte er: »Nein, er ist es auf jeden Fall. Wieso meinen Sie …«
Wieder Schweigen. Einen Fuß vor den anderen setzend, gingen sie weiter. Eine unvernünftige Furcht erfüllte sie. Irgendetwas stimmte nicht. Sie würden sie zwingen, zu jenem Ort zurückzukehren, wo sie doch weitergehen musste. Sie musste zu Scott und ihm sagen, wie leid ihr alles tat …
»Wir haben drei unabhängige Zeugen. Was immer Sie denken, es gibt keine …«
Der Polizist, der vorausging, schaute zurück und blieb dann stehen. Jodies Impuls, weiterzugehen, war so stark, dass sie fast gegen ihn prallte. Doch sie zwang sich, ebenfalls stehenzubleiben, und unterdrückte das beängstigende Gefühl, das dadurch in ihr aufkam. Lauf! Aber John war ein kleines Stück hinter ihnen, stand still und starrte zu Boden. Er lauschte.
Noch ein Knacken, diesmal vom Gerät des Mannes vor ihr. Sie sah ihn die Hand ans Ohr heben und den Kopf leicht zur Seite neigen.
»Westmoreland«, sagte er. »Bitte kommen.«
Sie drehte sich zu John um. Er sah auf und lächelte ihr kurz zu, doch sein Gesichtsausdruck verriet ihn. Jodie bemerkte, dass plötzlich jedes Gefühl aus seinem Gesicht gewichen war.
»Mein Gott«, sagte er, schloss die Augen und kratzte sich an der Stirn. »Und beim Lagerfeuer war auch eines. An der Tür.«
Sie sprachen von dieser schrecklichen Zeichnung, begriff Jodie, die der in dem Lieferwagen glich, in dem er sie beide hergebracht hatte.
Sie kämpfte gegen den Drang an, davonzulaufen.
Scott. Ich muss zu Scott.
»Sir«, rief Westmoreland. »Es ist wichtig. Von den Männern am Tatort.«
John berührte seinen Kopfhörer. »Mark, ich rufe Sie zurück.«
Er ging schnell zu ihnen hinüber. Westmoreland hatte immer noch den Kopf zur Seite geneigt und hörte aufmerksam zu. Er nickte und blickte auf.
»Sie haben einen Brief gefunden, Sir. In dem anderen Steinschuppen.«
»Sie sollen ihn vorlesen.«
»Lesen Sie bitte vor.«
Westmoreland schwieg abermals und lauschte.
»Sehr geehrter Detective Mercer«, begann er.
4. Dezember
27 Minuten bis Tagesanbruch
6:53 Uhr
Mark
Wieder im Büro, ging ich die Akten durch. Irgendetwas entging mir. Es musste so sein, denn ich war sicher, dass ich recht hatte. Der Mörder hatte mit James Reardon ein drittes Spiel gespielt. Er hatte Reardon im Wald draußen warten lassen, wo er Jodie bis Tagesanbruch gefangen halten musste. Es war keine Folter, doch es war ein Opfer, das er als Gegenleistung für das Leben seines Kindes bringen musste. Der 50/50-Killer hatte zwar von beiden keine Liebe stehlen können, aber Reardon würde doch in dem Spiel als Ganzes einen nützlichen Zweck erfüllen.
Doch was Mercer sagte, stimmte auch, nämlich dass es drei voneinander unabhängige Zeugen gab, die Reardon in die Schusslinie gebracht hatten: Amanda Taylors Freund Colin Barnes hatte Reardon als den Mann identifiziert, der sein eigenes Kind entführt hatte; Megan Cook hatte ihn das von Carl Farmer gemietete Haus betreten sehen, und Scott meinte, er hätte ihn wiedererkannt, weil er vor etwa einem Monat zu einem Ablesetermin im Haus gewesen sei. Sie konnten nicht alle lügen. Gemeinsam hatten sie ein eigenes Netz geschaffen, in dessen Mitte Reardon festsaß. Es musste also etwas geben, das ich übersehen hatte.
Ich öffnete den Text des Gesprächs mit Megan. Wenn der Killer Reardon lange Zeit überwacht hatte, hätte er sich leicht ein Foto von ihm aneignen und es bei der Zulassung des Lieferwagens und der Einrichtung des Unterschlupfes unter dem Namen Carl Farmer vorlegen können. Und er hätte von Reardon verlangen können, heute Vormittag die Maske zu hinterlegen und sich damit selbst noch mehr zu belasten.
Ich ging den Text durch.
Da war es.
Haben Sie gesehen, wie er am Haus ankam?, hatte ich Megan gefragt.
Oh ja. Ich war am Telefon am Fenster zur Straße.
Sie hatte nicht gesagt, mit wem sie gerade gesprochen hatte. Aber ich hatte gefragt, wie lange Reardon im Haus gewesen sei.
Ich war nur kurz am Telefon und hab ihn wieder rauskommen sehen, es kann also nicht lange gewesen sein.
Nur kurz. Konnte er es gewesen sein, der wirkliche Mörder, der sie unter irgendeinem Vorwand angerufen hatte, alles nur ein Trick, um sie in dem Moment ans Fenster zu kriegen, als James Reardon vor dem Haus erschien? Dies war die einzige Gelegenheit, bei der der 50/50-Killer jemals gesehen worden war; das war raffiniert eingefädelt, um uns auf die Spur eines falschen Verdächtigen zu locken. Damit er dort auf uns warten und, wie Mercer glaubte, uns herausfordern konnte, ohne dass er selbst in wirklicher Gefahr war, gefasst zu werden?
Doch da waren noch die Aussagen von Scott und Colin Barnes. Zugegebenermaßen war Scott im Moment angeschlagen, und man konnte sich vielleicht auf die Genauigkeit seiner Erinnerung nicht verlassen. Aber Barnes hatte hartnäckig behauptet, James Reardon habe ihn angegriffen und sein eigenes Kind entführt. Und das ergab keinen Sinn, weil meine Theorie sich darauf stützte, dass der 50/50-Killer das Baby mitgenommen hatte, um Reardon zu erpressen.
Also irrte sich Colin Barnes, oder er log.
Ich schloss die Akte und öffnete die über Karli Reardons Entführung. Mein Herz hämmerte wild in der Brust.
Der Text mit Barnes’ Aussage wurde geladen, und ich überlegte eine mögliche Erklärung. Vielleicht hatte Barnes seinen Angreifer gar nicht wirklich gesehen und wegen der Vorgeschichte mit Reardon bloß vermutet, dass er es war. Eine vernünftige Vermutung vielleicht, aber nicht notwendigerweise …
Die Datei öffnete sich, und ich hörte auf, zu denken.
Da war es, auf dem Bildschirm. Ich starrte es einen Moment an und konnte keinen Sinn in dem erkennen, was ich sah.
Etwas hatte … das konnte nicht stimmen. Das ….
Meine Welt stürzte ein.
Und weit weg ertönte irgendwo im Haus ein Alarm.
4. Dezember
25 Minuten bis Tagesanbruch
6:55 Uhr
Scott
Es gab keine Wohnung mehr. Keine Couch, auf der man bequem sitzen konnte. Keine Jodie, die nebenan schlief. Seine Träume hatten jeden Anspruch aufgegeben, seine Erinnerungen schönzufärben. Alle Kunstgriffe hatten gänzlich ausgedient. Jetzt war Scott im Schlaf einfach wieder dort, in dem Steinschuppen im Wald, verkrampft und voller Schmerzen saß er auf diesem unbequemen Sitzplatz, und der Mann mit der Teufelsmaske hockte vor ihm.
»Du bist blind für die Wahrheit.«
Der Mann hielt die Taschenlampe unter das Kinn der Maske und leuchtete sie an.
»Du liebst sie nicht. Nicht mehr.«
Es ist ein Spiel, rief Scott sich ins Gedächtnis. Der Mann war der Teufel, und das hieß, dass er log. Jodie hatte ihn nicht betrogen. Tatsächlich war nichts von dem wahr, was der Mann ihm gesagt hatte. Nicht unbedingt.
Aber der Beweis hatte doch direkt vor ihm gelegen, oder? Und es stimmte, dass Jodie unglücklich war, es war also gar nicht so schwer, sich vorzustellen, dass sie ihn wieder betrogen hatte. Das war es, was er jetzt tat, er malte es sich aus. Drehte das Bild um. Jodie und Kevin. Kevin und Jodie. Es konnte durchaus sein.
Die Stimme des Mannes wurde freundlicher, beruhigender.
»Sie liebt dich jedenfalls ganz bestimmt nicht.«
Scott schüttelte den Kopf.
Er dachte an alles zurück, was der Mann ihm heute Abend gesagt hatte. Das Bild, das Jodie nicht hatte haben wollen, ihre eine Nacht mit Kevin Simpson, die allgemeine Unzufriedenheit, die ihnen jetzt schon so lange ihr gemeinsames Leben verdorben, besonders aber Jodie bedrückt hatte. Er sah sie vor sich, wie sie in der Wohnung auf und ab ging, als hätte er sie in einen Käfig gesperrt. Wie sie zur Arbeit ging, die sie hasste. Jeden Morgen, wenn sie aufwachten, kam es ihm vor, als wäre ein bisschen mehr von ihr gestorben. Das Leben mit ihm ließ alle ihre Lichter eins nach dem anderen langsam verlöschen.
Wann hatte er sie zum letzten Mal lächeln sehen? Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern. Und Scott liebte sie so sehr, es brach ihm das Herz, dass er ihr nicht zeigen konnte, wie wichtig sie ihm war, wie viel sie ihm bedeutete. Oder dass er dies alles sagen und tun konnte, dass es aber nicht genügte.
Er würde alles tun, um es wieder in Ordnung zu bringen.
»Sag mir, dass du sie hasst«, wiederholte der Mann. »Dann ist das Spiel zu Ende. Der ganze Schmerz wird ein Ende haben …«
Er würde wirklich alles tun.
Und vielleicht konnte er das jetzt tun, selbst wenn sie es niemals erfuhr.
»Nein.«
Der Mann mit der Teufelsmaske sah ihn unerbittlich an.
»Nein?«
Scott zitterte vor Kälte. Seine Haut kam ihm wie abgestorben vor. Und er hatte solche Schmerzen. Vielleicht war er deshalb kurz vor dem Delirium. Mit Denken hatte es nichts mehr zu tun. Er spürte, wie sich seine Stimmung hob, und sagte wieder: »Nein. Ich liebe sie.«
Der Mann setzte sich auf die Fersen zurück und legte den Kopf ein wenig schief. Trotz Maske war ihm ein Anflug einer Niederlage anzumerken.
»Na gut.«
Und dann stand Scott draußen vor dem Steinschuppen. Der Mann hatte den Strick durchgeschnitten, mit dem seine Arme an die Schenkel gebunden waren, hatte ihm aber die Handschellen nicht abgenommen. Seine Beine waren schwach, sein Rücken krumm und steif und vom Krampf wie abgebrochen. Der Mann zog ihm die Kleider aus und warf sie in den leeren Schuppen.
»Die lassen wir auch hier.«
Er meinte die Blätter in seiner Hand, die er sorgsam oben auf die Kleider legte, und dabei ließ er Scott jedes einzelne sehen. Fünfhundert Gründe, warum ich dich liebe.
Scott empfand tiefe Trauer, als er das sah. Er wünschte sich vor allem anderen, er hätte sie zu Ende schreiben können, und hoffte, dass sie es verstehen würde.
Zweihundertvierundsiebzig Gründe, das hieß: Ich weiß, dass nicht alles perfekt ist, am allerwenigsten ich, aber ich gebe nicht auf, weil ich zum Äußersten entschlossen bin, um dich nicht zu verlieren.
Er fing an zu weinen. »Kann ich sie sehen?«
»Nein.«
»Bitte. Bitte, kann ich sie wiedersehen?«
Das Blatt mit der E-Mail kam als Nächstes, aber er drehte es um, so dass die Seite mit den kleinen handgeschriebenen Buchstaben zu sehen war. Scott erhaschte einen Blick auf die erste Zeile – Sehr geehrter Detective Mercer –, und dann schloss der Mann die Tür, und der Riegel quietschte beim Zuschieben.
»Warum?«, schluchzte Scott. »Warum tun Sie das?«
Der Mann antwortete ihm nicht. Stattdessen ging er zum Feuer hinüber und nahm ein brennendes Holzstück. Dann hielt er den Schraubenzieher hoch und wies tiefer in den Wald hinein.
»Wir gehen hier lang.«
Er wusste nicht, wohin der Mann ihn führte. Es war zu dunkel, um viel sehen zu können, und er stolperte immer wieder. Aber der Mann trieb ihn mit dem brennenden Holzscheit voran, stieß es ihm in den nackten Rücken und versetzte ihn mit dem plötzlichen, qualvollen Schmerz in Panik. Er wusste, was geschehen würde. Die Bilder stellten sich ohne ersichtlichen Grund, aber mit absoluter Überzeugungskraft in seinem Kopf ein. Der Mann würde ihn zwingen, sich mit dem Gesicht nach unten auf den gefrorenen Waldboden zu legen, dann sein Messer herausnehmen und ihm die Kehle durchschneiden. Er konnte sich seine Schreie vorstellen, die plötzlich in panischem Röcheln erstarben, während sein Blut sich im Schnee ausbreitete.
Wie würde es sich anfühlen, zu sterben? Von der Welt zu verschwinden?
Scott bat und bettelte, doch der Mann schwieg.
Sie gingen ungefähr zehn Minuten, und dann sagte ihm der Mann, er solle stehenbleiben. Er zeigte mit der Spitze des Schraubenziehers auf den Stamm eines Baumes.
»Setz dich dorthin.«
Scott fiel gegen den Baum und streckte die nackten Beine vor sich im Schnee aus. Die Kälte brannte, aber er hatte solche Angst, dass es ihm egal war.
Der Mann band ihn mit zwei Stricken an dem Baum fest. Den einen wand er um seinen Körper, so dass er die Arme nicht bewegen konnte. Den anderen führte er ihm durch den Mund, wodurch seine Zunge zurückgedrückt und der Kopf nach oben gedreht wurde. Als er fertig war, stand er vor Scott, der jetzt keine andere Wahl hatte, als ihn anzusehen.
»Du hast mich gefragt, warum.«
Der Mann kauerte sich vor Scott hin und zog die Maske von seinem Gesicht, schob sie auf seinen Kopf hoch. Er war einfach nur ein Mann, begriff Scott von neuem. Außer der schrecklichen Gefühlskälte war nichts Ungewöhnliches an seinem Gesicht. Er hätte irgendjemand sein können.
»Ich bin ein Geist in dieser Hülle.« Die Worte des Mannes klangen irgendwie einstudiert. »Ich fühle nichts, weil ich getrennt von ihr existiere. Wenn es zu Ende ist, wird dieser Körper zerfallen, und ich werde ohne ihn davonschweben.«
Er beugte sich zur Seite, streckte die Hand aus, so dass die Flammen von dem Holzscheit an dem Schraubenzieher hochzüngelten. Er drehte ihn hin und her.
Bitte nein. Bitte tu mir nicht mehr weh.
»Wenn dieser Körper zerfällt, werde ich in eine andere Hülle schlüpfen, um meine Sammlung fortzuführen. Und dann wieder in eine andere.«
Als der Mann den Schraubenzieher aus den Flammen zurückzog, steigerte sich Scotts Panik, und dann starrte er entsetzt auf den Mann, der den Schraubenzieher an sein eigenes Gesicht hob. Er stieß sich die Spitze ins Auge und hielt sie dort. Irgendetwas zischte und schrumpfte, und der Mann drehte den Griff langsam von einer Seite zur anderen, während Rauch von seiner Stirn aufstieg. Als er wieder sprach, war seine Stimme gleichmütig und gelassen, und Scott glaubte ihm jedes Wort.
»Am Ende«, sagte der Mann, der sich ruhig das Auge ausstach, »werde ich meine Sammlung nach Hause mitnehmen dürfen, zu meinem wahren Vater.«
Scott erwachte langsam und öffnete sein Auge. Es war schwierig. Das Lid war unheimlich schwer, oder die Muskeln, die es bewegten, waren so taub, dass die Nerven sie nicht in Bewegung setzen konnten.
Diese Kälte. Ihm war schrecklich kalt. Sein Körper zitterte und schlotterte, doch er spürte dabei nichts. Er wusste nur, dass es so war. Als er sich am Anfang hier hatte hinsetzen müssen, hatte die Kälte gebrannt. Jetzt war es, als gehörte sein Körper jemand anderem.
Es muss fast Morgen sein. Der Himmel erwachte langsam zum Leben, und irgendwo weit oben über ihm begannen in den Bäumen die Vögel zu singen. Aber alles war so fern und ganz weit weg. Sein Körper fühlte nichts mehr, er hatte nur noch einen kleinen Rest Wärme im Inneren, aber auch den spürte er dahinschwinden. Er starb von außen nach innen.
Er empfand keine Panik mehr. Sogar der schreckliche Schmerz war abgeschwächt, während das Adrenalin nur noch träge und kalt in seinen Adern ruhte. Sein Herz hatte kaum noch genug Energie, um weiter zu schlagen.
Zumindest konnte er sein Auge schließen, und es war dankbar für die Pause und fiel an seinen Platz zurück. Eine Brise streifte seine Haut, aber er hätte nicht sagen können, ob sie warm oder kalt war. Es war belanglos.
Scott ließ sich treiben. Die Welt schien nur zögernd zu schwinden, aber schließlich konnte sie nicht mehr an ihm festhalten, und er versank wieder in den Schlaf. Die Träume kamen wieder, verdichteten sich, doch jetzt waren sie mehr wie richtige Träume, erdachte Phantasien.
Plötzlich stand Jodie hinter ihm und streckte die Arme nach vorn, um ihm die Krawatte zu binden. Trotz allem liebte er sie immer noch. Sie passte einfach so perfekt zu ihm.
Jodie sagte: »Du musst nicht hingehen. Wenn du nicht willst.«
Und dann war er an einem Strand, den er noch nie gesehen hatte. Er saß einfach im Sand und schaute den Wellen zu, horchte, wie sie heranrollten und sich dann am Ufer brachen. Es war ein sanftes Rauschen, das sich endlos wiederholte.
In seinem Traum sah er zur Seite, und Jodie war auch da. Sie saß ruhig neben ihm, und der Wind spielte in ihrem Haar. Die Sonne schien, und er fühlte sich wunderbar. Es gab keine Kälte, jetzt nicht mehr. Jodie sah ihn an und lächelte, und als sie ihren Kopf an ihn schmiegte, nahm er ihre Hand.
Auch dies verblasste jetzt langsam. Er schloss die Augen und hörte zu, wie das Meer immer leiser wurde.
Und als Scott starb, rauschte es ihm leise zu: Schschsch.
4. Dezember
20 Minuten bis Tagesanbruch
7:00 Uhr
Mark
Ist es falsch, dass ich so dachte?
Während ich die Krankenhauskorridore entlangrannte und den Leuten zurief, sie sollten aus dem Weg gehen, hatte ich eigentlich keine Angst, obgleich ich unbewaffnet war. Obwohl ich jetzt, nachdem ich das Foto von Colin Barnes gesehen hatte, wusste, dass der Mann, mit dem ich die ganze Nacht gesprochen hatte, überhaupt nicht Scott Banks gewesen war.
Ich hatte keine Angst. Meine größte Sorge war nur, zu spät zu kommen, und wegen des Alarms glaubte ich, dass es wahrscheinlich schon zu spät war.
War das falsch? Da ich von all den anderen Menschen wusste, die der 50/50-Killer ermordet hatte, meinte ein Teil von mir, ich hätte an sie oder zumindest an meine Arbeit denken sollen. Ich würde gern glauben, dass ich tapfer und selbstlos meine Pflicht erfüllte. Dass ich nach oben rannte, um diesen Mann aufzuhalten, bevor er entwischte und noch jemanden verletzte.
In den Aufzug.
Mit dem Fuß tippte ich nervös auf den Boden: Komm schon, komm schon.
Ping. Durch die Türen hinaus – und schon lief ich weiter.
»Aus dem Weg.«
Die Wahrheit ist, ich rannte nicht aus Pflichtgefühl oder wegen seiner früheren oder zukünftigen Opfer die Korridore entlang. Sondern ich dachte ausschließlich an mein letztes Gespräch mit ihm – mit Scott beziehungsweise Carl Farmer, beziehungsweise Colin Barnes.
Ich erinnerte mich an seinen Gesichtsausdruck, als ich ihm von Lise erzählt hatte. Wie er mir gedankt hatte, als ich das Zimmer verließ. Ich dachte daran, dass er der Wolf des Weltalls war, dass er Beziehungen auseinanderriss und der Welt die Liebe stahl.
Vor allem hörte ich in meiner Vorstellung wieder jenes Geräusch, nicht das von seiner Aufnahme, sondern sein langsames Atmen, während ich mein Bekenntnis ablegte. Wie er zuhörte, als ich ihren Tod beschrieb und erklärte, dass ich glaubte, sie verraten zu haben. Als ob er sie seiner Ausbeute hinzufügte.
Er war nur ein Mensch – das wusste ich im Grunde. Genau wie ich wusste, dass das vierte Spinnennetz, das Mercer im Wald gefunden hatte, eigentlich nicht mich und Lise darstellen konnte. Wie sollte es? Er hatte alle Zeichnungen hinterlassen, bevor er mir begegnet war. Es war unmöglich.
Aber trotzdem, deshalb rannte ich so schnell. Denn wenn ich ihn jetzt nicht zu fassen bekam, war ich sicher, dass ich einen Teil meiner selbst für immer verlieren würde.
An der Tür zu seinem Zimmer standen eine Menge Leute herum – Schwestern, Ärzte und Krankenpfleger –, und alle sahen betroffen und verängstigt aus. Wahrscheinlich machte der Anblick, wie ich auf sie zustürmte, es nicht besser.
Kein Wachmann, stellte ich fest.
»Polizei.«
Sie traten etwas zur Seite, um mich durchzulassen.
»Wir wissen nicht, was passiert ist«, sagte einer der Pfleger.
»Eine Schwester hat ihn so gefunden.«
Ich versuchte durchzukommen.
»Machen Sie bitte Platz.«
Ich war wild entschlossen, ihn zu stellen, doch das sollte mich nicht unvorsichtig machen. In einiger Entfernung vom Eingang blieb ich stehen und versuchte, mir einen Überblick über das Zimmer zu verschaffen.
An der Tür kauerte eine Frau in Schwestertracht über jemandem, der auf dem Boden lag. Der Wachmann. Wo war Barnes? Das Bett war leer, das Bettzeug unordentlich zur Seite geworfen. Auf der anderen Seite des Zimmers stand das Fenster offen, die die ganze Nacht über geschlossenen Rollos waren jetzt halb hochgezogen. Kalte Luft wehte herein, und das Plastikrollo klapperte gegen die Scheiben.
Ich trat ein und sah schnell überall nach. Sonst war niemand im Raum. Es gab auch keinen Platz, wo sich irgendjemand hätte verstecken können. Er war weg.
Ich legte der Schwester die Hand auf die Schulter und ging neben ihr in die Hocke.
»Ich habe ihn gerade eben so gefunden«, sagte sie.
»Aha.«
Es war ihrer Stimme anzuhören, dass sie schon nach Lebenszeichen gesucht und keine gefunden hatte. Sie klang verwirrt.
»Würden Sie bitte kurz rausgehen?«, fragte ich so freundlich ich konnte. »Bitte warten Sie im Flur und sorgen Sie dafür, dass niemand hier hereinkommt. Das ist sehr wichtig.«
Sie nickte langsam und stand auf. An ihren Händen war Blut, und als sie zur Tür ging, wischte sie es zerstreut an ihrem Kittel ab.
Sofort trat ich ans Fenster und schauderte, als ich dort ankam.
Auf dem Fensterbrett und an der Scheibe waren Blutspuren, ebenso wie am Rollladengurt. Ich schaute hinaus, gab aber Acht, nichts zu berühren. Wir waren an der Hinterseite des Gebäudes, nur ein Stockwerk hoch, es war möglich, dass er hinuntergesprungen war. Aber die Steine der Mauer waren uneben, er hätte also wahrscheinlich auch hinunterklettern und mit Fingern und Zehen in den Ritzen zwischen den Backsteinen Halt finden können.
Unten auf dem Parkplatz war niemand zu sehen.
Ich ging wieder zu dem Wachmann hinüber.
Sein Kopf war geschwollen und zertrümmert, sein Arm lag in einem schmerzhaft verdrehten Winkel da.
Irgendwie fand ich die achtlose Brutalität dessen, was ihm angetan worden war, noch schockierender als die wohlüberlegten Brandwunden an Kevin Simpson. Es kann überraschend schwer sein, jemanden zu Tode zu prügeln, und Barnes hatte sich vergewissert, dass er ganze Arbeit geleistet hatte. Der Mann war immer wieder getreten und niedergetrampelt worden. Sein Gesicht war blutverschmiert, und sein Kopf lag in einer Blutlache. Am Kragen seiner braunen Uniform und überall sonst waren Blutflecken, auch unten an der Wand.
Die bloßen Füße hatten blutige Spuren hinterlassen.
Das Bett. Am Fußende lagen achtlos hingeworfene befleckte Verbände. Das Bettzeug war zur Seite geschoben worden, aber an den Laken war kein Blut. Nur eine Delle, wo Scott während der Nacht gelegen hatte. Nicht Scott natürlich, sondern Colin Barnes. Wenn das tatsächlich sein richtiger Name war.
Ich stellte mir vor, wie er rief und der Sicherheitsmann die Tür öffnete und sich lauschend über das Bett beugte. Wie er ihm einen kräftigen Schlag auf die Schläfe versetzte und dann seelenruhig das Bettzeug wegzog, aufstand und es zu Ende brachte.
In meiner Phantasie sah ich diese Szene als eine turbulente Serie von Handlungen vor mir, einen Wirbel brutaler, schneller Schläge, spritzendes Blut. Ich konnte spüren, wie eine Ferse sich in eine Augenhöhle bohrte und das getroffene Auge nur noch Sterne sah.
Nachdem der Wachmann tot war, war Barnes aus dem Fenster geklettert. Jetzt war er weg, er war mir entwischt.
Am liebsten hätte ich geschrien.
Der Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, lag hinten im Zimmer auf der Seite, aber ich stand genau da, wo er vorher gewesen war. An derselben Stelle, wo ich die ganze Nacht mit diesem Mann gesprochen und ihm zugehört hatte, während er mich manipulierte.
Hinter mir klapperte das Rollo gegen das Fenster.
Ich wäre am liebsten einfach auf dem Boden zusammengebrochen – so viel Zeit hatte ich hier im Gespräch mit Scott zugebracht, hatte ihm von Lise erzählt. Und dabei war es die ganze Zeit dieser Mann gewesen.
Er wollte irgendwo sein, wo er beobachten konnte, was sich tat, und ein Auge darauf haben, wie wir vorankamen.
Da waren Steinwände.
Und er wollte uns irgendwohin führen, wo wir sahen, was er wollte. Uns dahin bringen, wo er uns haben wollte.
Wir haben einen Fluss überquert, einen Weg.
Die ganze Zeit hatte es genügend Hinweise für uns gegeben, um ihn zu fassen, wenn wir alles richtig kombiniert hätten. Den ganzen Tag schon war sein Bild dort in der Akte gewesen. Während er hier oben lag, sich hinter einem vorgetäuschten Trauma versteckte und uns genug Informationen lieferte, dass wir Jodie vor Tagesanbruch finden konnten, falls wir nicht rechtzeitig den richtigen Zusammenhang herstellten, um die Wahrheit herauszufinden.
Warum?
Die Frage fiel mir jetzt wieder ein. Er selbst hatte sie mir vorhin gestellt, wohl weil er neugierig war, ob wir ihn verstanden hatten oder nicht. Aber warum hatte er das alles getan? Er hatte Reardon als Ablenkungsmanöver benutzt, aber das war nichts, was seine pathologischen Bedürfnisse befriedigte. Er hatte Kevin Simpson ermordet, aber er würde bei Tagesanbruch nicht da sein, um sich etwas von Jodie zu holen.
Es war nicht logisch. Er hatte riskiert, gefasst zu werden, und uns geholfen, sie rechtzeitig zu finden, alles anscheinend ohne Sinn und Zweck. Warum forderte er uns überhaupt heraus?
Und wo war der echte Scott Banks?
Vorwärts!
Ich trat wieder auf den Korridor hinaus.
»Ich fordere Unterstützung an. Bis sie kommen, geht niemand in dieses Zimmer. Verstanden?«
Die Schwester nickte wieder. Ich ging los.
Das vierte Spinnennetz, dachte ich – das konnte nicht für mich stehen. Colin Barnes war doch kein Hellseher. Ein viertes Spinnennetz, am Tatort im Wald hinterlassen, bedeutete eine vierte ruinierte Beziehung, die sein Hauptgewinn war. Eine Beziehung, die er in aller Ruhe hatte studieren können. Eine, die er auflösen und zerstören konnte. Irgendjemand musste wissen, dass er verraten worden war, damit er getötet und ihm diese vergiftete Liebe geraubt werden könnte. Eine Wahl musste …
Er hatte überhaupt nicht uns herausgefordert.
»Oh Scheiße.«
Ich spürte etwas in meiner Tasche vibrieren – Mercers Telefon klingelte. Das Display zeigte die Durchstellnummer der Suchtrupps im Wald.
Er hatte die ganze Zeit nur Mercer herausgefordert.
Noch während ich mich meldete, rannte ich los.
4. Dezember
10 Minuten bis Tagesanbruch
7:10 Uhr
Der 50/50-Killer
Vorbereitung.
Der Teufel wusste die Adresse und den Weg auswendig. Vor zwei Tagen hatte er ihn wiederholt abgefahren, um sich die Straßen einzuprägen und sich mit dem zeitlichen Ablauf vertraut zu machen. Als er sich die Route genau gemerkt hatte, war er mit dem Auto zum Krankenhaus zurückgefahren und hatte es hinter dem Gebäude geparkt. Es war ein alter Kombi ohne Nummernschild, den er bar bezahlt und in einer kleinen Nebenstraße abgestellt hatte. Nachdem er ihn abgeschlossen und sich vergewissert hatte, dass niemand ihn beobachtete, ließ der Teufel die Kleider und Gegenstände, die er brauchen würde, im Wagen und klebte die Schlüssel unten am Fahrgestell fest, bereit für den Moment, wenn der Wagen gebraucht würde.
Schon nach drei Minuten hielt er zum ersten Mal an.
Bei einer von mehreren Immobilien, die er gemietet hatte. Es war eine kleine, billige Ein-Zimmer-Kellerwohnung in einer schlechten Wohngegend in der Nähe des Krankenhauses. Sie hatte sich als ideal für diesen Zweck erwiesen, und das nicht nur wegen der Lage. Die meisten anderen Wohnungen im Haus standen leer. In den bewohnten schrien sowieso immer irgendwo kleine Kinder.
Der Teufel parkte den Wagen und ging den Weg zum Haus und die Stufen vor der Haustür hinunter. Es war sehr still. War das Kind gestorben? Hoffentlich nicht. Der Teufel hatte die Schlüssel in einem Blumentopf neben den Stufen versteckt und holte sie jetzt heraus. Die Haustür erbebte leicht im Rahmen, und dann fiel das frühe Morgenlicht in den Raum.
Das Baby lag in dem eigens für diesen Zweck gekauften Laufstall auf dem Rücken und schlief.
Der Teufel nahm es hoch; das Kind regte sich und gab ein Geräusch von sich.
»Schsch. Ist schon gut. Nicht weinen.«
Karli Reardon quengelte noch ein bisschen, als er sie durch den Raum trug, fing aber erst richtig an zu schreien, als sie in die Kälte hinauskamen, wo sie anfing, sich mit überraschender Kraft zu wehren. Der Teufel fand, dies sei ja auch ein unsanftes Erwachen, obwohl für ihn die Temperatur nie eine Rolle gespielt hatte. Seiner Natur gemäß hatten Hitze oder Kälte auf ihn nicht dieselbe Wirkung wie auf normale Menschen.
»Schsch. Dir passiert schon nichts.«
Er schaukelte das Baby sanft und gab Laute von sich, die er von anderen Leuten gehört hatte.
Trotzdem hörte Karli nicht auf zu weinen.
Er schnallte sie auf dem Kindersitz im Auto an, setzte sich dann hinters Steuer und lächelte ihr zu. Lächeln konnte der Teufel gut. Als es nicht funktionierte, zog er eine lustige Grimasse, aber Karli Reardon sah nicht aus, als fände sie das sehr komisch. Dem Teufel wurde es bald langweilig, er ließ den Motor an und fuhr los.
Auf halbem Weg griff er hinüber, öffnete das Handschuhfach und holte die Maske heraus, die er dort deponiert hatte.
Sein Ziel war weniger als fünf Minuten entfernt.
Es hatte bei der Beerdigung des ermordeten Polizisten angefangen.
Aus Neugier und mit einem dunklen Gefühl der Erregung hatte der Teufel verstohlen hinten in der Kapelle gestanden. Schon bevor er dort ankam, hatte er eine Vorahnung, dass etwas Wichtiges geschehen würde. Er hatte nicht gewusst, was, nicht einmal, ob es etwas Gutes oder Schlechtes sein würde, doch als John Mercer aufstand, um seine Grabrede zu halten, war dem Teufel sofort klar geworden, dass dies der entscheidende Moment war.
Zuerst wie gebannt und dann erschrocken, hatte er verfolgt, wie Mercer vor der Gemeinde die Nerven verloren hatte. Die anderen Anwesenden mochten an einen Nervenzusammenbruch glauben, aber der Teufel erkannte es als das, was es war; er musste nur auf Mercers Worte hören und die Art und Weise beobachten, wie er die Bösen in der Menge fand, um zu wissen, dass hier eine Gegenkraft wirkte, ein ebenbürtiger Gegner. Dieser Mann war in der Lage, das Böse zu spüren. Jeden Augenblick konnten sich ihre Blicke treffen, und John Mercer würde es ganz einfach wissen.
Nur das Eingreifen der Frau des Polizisten und seiner Kollegen hatten ihn an jenem Tag davor bewahrt, gefasst zu werden. Es war erschreckend. Der Weg hatte bis hierher immer klar und einfach vor ihm gelegen. Er hatte nie den Verdacht gehabt, dass es jemanden auf dieser Erde geben könnte, der ihn aufzuhalten vermochte. Und jetzt war er da: der Gegner. Die Gegenkraft.
Sein weiterer Weg hatte sich dem Teufel schließlich nach einem Tag intensiver Meditation eröffnet, der ihm neue Entschlusskraft verlieh. Zunächst musste er so viel wie möglich über diesen Feind herausfinden.
In der Anfangszeit seiner Genesung verbrachte Eileen Mercer viel Zeit am Bett ihres Mannes im Krankenhaus, und ihr Haus stand leer. Als sie beide nach Hause zurückkehrten, pflegte sie ihn. Der Detective verbrachte seine Tage im Morgenmantel, las, sah fern; anscheinend hatte er nicht genug Energie, um auch nur von einem Zimmer ins nächste zu gehen. Beide hatten keine Neigung, auf den Dachboden zu steigen; die Leute tun das ja ohnehin nicht oft. Aber hätten sie es getan, dann hätten sie dort, in blassblaues Licht getaucht, den Teufel gefunden. Er sah und hörte alles.
Ganz eindeutig hatte das Schicksal John Mercer seinen Weg kreuzen lassen, damit er sich ihm stellen und mit ihm befassen sollte. Aber anfangs war er unsicher, welcher nächste Schritt auf diesem Weg der richtige wäre. Erst als Mercer gegen den Willen seiner Frau wieder zur Arbeit ging und von seinen leeren Versprechungen abwich, wurde sichtbar, welche Form das Spiel annehmen würde. So war es immer. Es war ein Fund, wie ein Fossil, von dem der Teufel mit seinen Studien lediglich den Sand wegfegte, um die Struktur freizulegen. Würde John Mercer bereit sein, seine Aufgabe in der Welt zu verleugnen, um sein Versprechen einzuhalten? Wenn er das tat, wäre der Teufel einen Gegner losgeworden. Wenn er aber seinen Beruf über das Bekenntnis zu seiner Liebe stellte, würde der Teufel reiche Beute machen. Das Spiel sollte eine echte Konfrontation zwischen den beiden sein, eine Prüfung. Doch darin lag auch ein gewisser Trost. Der Teufel wusste, dass wir in verschiedenen Lebensphasen auf Beschützer treffen, die wir überwinden müssen, und dies war offensichtlich ein solcher Moment. Um die Angst zu bezwingen, betete er jeden Tag zu seinem Vater und ließ das Spiel seine Form annehmen.
In der Zwischenzeit erweckten im Lauf seiner Recherchen andere Zielpersonen seine Aufmerksamkeit, und er schlüpfte jeweils in eine neue Gestalt und nahm bei ihrer Verfolgung die Identität verschiedener Menschen an. Als er von James Reardon hörte, wurde aus dem Teufel Carl Farmer, dann Colin Barnes, der eine Beziehung mit der Mutter von Reardons Kind anknüpfte. Scott Banks und Jodie McNeice hingegen waren schon fast drei Jahre eines seiner Paare gewesen. Doch als Kevin Simpson den Kontakt mit Jodie wiederaufgenommen hatte, wusste der Teufel, dass dies ein Zeichen war. Alle Teilstücke passten schließlich zusammen, und dadurch rückte seine Angst in weite Ferne. Er hatte sich auf ein wirklich gewaltiges Werk eingelassen.
Aber am Ende waren diese beiden Spiele nur anregende Appetithäppchen, Bauteile eines noch größeren Ganzen. Bei dem richtigen Spiel ging es immer gegen John Mercer. Entweder würde dieser Rächer den Kampf aufgeben, oder die Liebe seiner Frau würde in Stücke gerissen und als Buße zerstört werden. So oder so wäre die Prüfung bestanden. Vielleicht würde ihm dann endlich erlaubt, wieder heimzukehren.
Was immer mit den sterblichen Überresten geschah, das, was der Teufel hier erreicht hatte, würde wunderschön sein. Er würde eine Kathedrale des Todes hinterlassen. Eine Kapelle aus Fleisch und Blut, in die der wahre Vater aufsteigen und dort springen und tanzen könnte.
Als er ankam, brannte im Haus Licht, und einen Moment lang fragte er sich, ob er sich verrechnet hatte. Die Zeitplanung war immer knapp gewesen. Doch er ahnte, dass es eine andere Erklärung gab, auch wenn er sie noch nicht kannte. Wenn Eileen Mercer noch auf war und vielleicht auf ihren Mann wartete, dann würde er vorsichtig sein müssen, aber eigentlich hatte sich nichts geändert.
Der Teufel stellte den Wagen ab, holte das Kind heraus und nahm es auf den Arm. Es weinte immer noch, und er flüsterte wieder tröstliche Albernheiten und rasselte leise mit den Hausschlüsseln.
Er ging die Einfahrt zur Haustür hinauf und war innerhalb von fünf Sekunden im Haus. Der Flur unten war dunkel, aber die Türen waren offen und die Räume dahinter hell erleuchtet.
Er blieb stehen und horchte gespannt. Es war sehr still im Haus, nur das Kind weinte und drückte sich jetzt fest gegen seine Brust. Darunter spürte er sein eigenes Herz langsam und regelmäßig schlagen.
»Schsch.«
Oben begann ein Telefon zu klingeln. Bestimmt die Polizei.
Der Teufel ging auf die Treppe zu und stieg hinauf.
4. Dezember
Tagesanbruch
7:20 Uhr
Mark
Tagesanbruch. Der Himmel war oben dunkelblau, wurde nach unten heller und im Osten dunstig und gelb. Ein paar Sterne waren noch als Bruchstücke von Sternbildern zu sehen. Während ich fuhr, zog ein riesiger Wolkenfetzen vor mir her. Im Licht der aufgehenden Sonne wurde er zu einem purpurroten Daumenabdruck am Himmel.
Zwanzig nach sieben.
Aus dem Weg.
Ich wusste ungefähr, wohin ich fahren musste, verließ mich aber vor allem auf das Navigationssystem des Wagens, obwohl es nicht ganz mithalten konnte. Mit blinkendem Blaulicht und heulender Sirene raste ich so schnell dahin, wie die Straßen es erlaubten. Vor mir fuhren Autos an den Bordstein, um mich passieren zu lassen, doch der Verkehr war selbst so früh schon sehr dicht, und ich musste immer wieder auf die andere Straßenseite hinüber, bahnte mir zwischen den Fahrbahnen einen gefährlichen Weg und konnte wegen der entgegenkommenden Scheinwerfer kaum etwas sehen.
Na los, na los.
Die Straßen waren geräumt, aber überfroren und gestreut. Über den Polizeifunk kamen Bruchstücke verrauschter Durchsagen, ich schaltete bei einigen das Mikro an und antwortete, während ich die Straße im Auge behielt. In den Berichten wurde mitgeteilt, dass die Kollegen im Krankenhaus angekommen waren und dort alles unter Kontrolle hatten.
Bei Mercer zu Hause nahm niemand ab. Bewaffnete Kollegen waren unterwegs, aber …
»Ich bin gleich dort«, meldete ich.
Der Anruf im Krankenhaus war von Mercer gewesen, der durch den Wald rannte. Er gab verzweifelte, wirre Anweisungen, alle möglichen Leute anzurufen und zu mobilisieren. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon das meiste begriffen, doch er berichtete noch von dem Brief, den sie in dem Schuppen gefunden hatten, in dem Scott eingesperrt gewesen war. Der Brief, der an ihn adressiert war.
Das wichtigere Spiel hatte sich hier abgespielt.
Sehr geehrter Detective Mercer …
In meiner Vorstellung hörte ich noch das Krachen im Unterholz, als er rannte, und wie sein Atem stockte. Ich spürte seine Panik.
…wenn Sie diesen Brief finden, haben Sie Ihre Entscheidung getroffen.
Ich war jetzt zu seinem Haus unterwegs, fuhr wie der Teufel und war hinter dem Teufel her. Mercer würde bald aus dem Wald kommen und unterwegs sein, doch egal, wie schnell er dort ankam, und was immer der Verbindungsmann mir am Funkgerät sagte, ich wusste, dass ich als Erster vor Ort sein würde.
Eileen …
Ich bog in die Straße ein, drosselte die Geschwindigkeit, fuhr vorsichtig. Das Haus war auf dem GPS-Bildschirm mit einem roten Kreis markiert, das dritte in der Straße. Ein großes, alleinstehendes Haus. Quadratische Fenster, alle hell erleuchtet. Ein großer Garten, der in kleinen Terrassen anstieg und in der Mitte ein Weg zur Haustür. An der Seite eine Einfahrt. Alles dick verschneit, im frühen Morgenrot ein wenig rosa. Ein altes Auto parkte davor.
Ich fuhr an den Straßenrand und blockierte es.
»Detective Nelson«, meldete ich mich bei dem Verbindungsmann. »Ich bin jetzt vor Ort. Ich gehe rein.«
Als ich ausstieg, schlug mir die Kälte entgegen, aber ich zitterte sowieso schon. Angst und Adrenalin. Ich sammelte mich, so wie ich es gelernt hatte. Langsam durch die Nase einatmen. Den Speichel im Mund verteilen. Bewaffnete Polizisten waren unterwegs, aber bis sie kamen, musste ich mich mit der Standardausrüstung behelfen, die ich im Wagen hatte. Ich nahm sie an mich. Pfefferspray in der rechten Hand, einen Schlagstock mit seitlichem Griff in der linken. Es schien lächerlich unzureichend.
In der Ferne heulten Sirenen. Noch ziemlich weit weg.
Das Auto, das vor mir geparkt war, knackte leise in der kalten Luft. Ich berührte die Motorhaube. Warm. Er war hier. Trotz des drängenden Impulses, ins Haus zu eilen, dachte ich an Andrew Dyson und zwang mich, es erst zu betrachten und mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen, bevor ich irgendetwas tat. Der Schnee in der Einfahrt war unberührt. Der auf dem Weg durch den Garten nicht. Verwischte Fußspuren führten zur Haustür, die, leicht angelehnt, die einzige dunkle Fläche war.
Dann sah ich es und erstarrte. Eines der Fenster im oberen Stockwerk hatte einen Sprung. Auf dem Glas war eine verschmierte Blutspur. Der Anblick trieb mich vorwärts, bevor ich ihn richtig begreifen konnte.
Los.
Rasch ging ich durch den Garten und überprüfte alle Ecken. Im Schnee um den Weg herum waren keine Fußspuren, jede Menge Platz zwischen mir und den Hecken. Ich behielt die Einfahrt rechts von mir im Auge, falls er an der Seite herauskäme.
Als ich den Weg halb hinuntergegangen war, hörte ich es. Ein Kind weinte.
Meine Nackenhaare sträubten sich, und ich blieb ungefähr zehn Meter vom Haus entfernt abrupt stehen.
Karli Reardon.
Ich packte den Griff des Schlagstocks, so dass der größte Teil an meinem linken Unterarm lag, hielt ihn vor mich und beugte schützend den Arm. Das rechte Handgelenk legte ich über das linke und hielt das Pfefferspray nahe am Körper. Tief durchatmen.
Das Kind klang ganz nah, als sei es im Haus. Das Weinen kam von einer Stelle hinter der Haustür, die im Schatten lag und die ich nicht einsehen konnte.
»Kommen Sie raus!«
Die Dunkelheit regte sich ein wenig, und als Antwort trat er heraus, so dass ich ihn sehen konnte.
Barnes. Er hielt Karli Reardon fest an sich gedrückt, in der anderen Hand ein Messer.
Das Herz schlug mir bis zum Hals.
»Polizei«, rief ich. »Bleiben Sie, wo Sie sind.«
Doch er kam auf die Veranda heraus und dann auf den Weg, wo ich ihn sehen konnte. Er trug Jeans und die Teufelsmaske, sonst nichts. Sämtliche Verbände waren abgerissen, und ich sah das ganze Ausmaß seines Wahnsinns, die schrecklichen Verletzungen, die er sich selbst beigebracht hatte, um uns hinters Licht zu führen. Schnitt- und Brandwunden überall am Oberkörper, blaue Flecken, die gebrochenen Finger der einen Hand, die gekrümmt das Baby hielt. Li hatte gesagt, auch die Sohlen seiner Füße seien verbrannt, doch er ging, als fühlte er überhaupt keinen Schmerz.
Im blassen Licht der Morgendämmerung sah er aus wie ein Leichnam, trotz allem lebendig. Überall war er mit Blut befleckt. Die Hand mit dem Messer war verdeckt. Ich wollte wieder zum Fenster hochsehen; ein schreckliches Gefühl der Verzweiflung drohte mich zu überwältigen. Konzentrier dich.
Er machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich nicht zurück.
»Legen Sie das Kind hin, Barnes.«
Die Maske war abstoßend – rote Haut und verfilztes schwarzes Haar –, aber ich rief mir ins Gedächtnis, dass es nur eine Maske war. Er war nur ein Mensch. Er mochte dazu fähig sein, den Schmerz zu beherrschen, den er spüren musste, aber das Pfefferspray würde ihn erledigen. Es würde seiner Lunge nur das absolute Minimum an Luft lassen, das zum Überleben notwendig ist, und würde seine Augen blenden. Und er würde am Boden liegen, wo ich ihn haben wollte. Mein Gott, ich wollte es tun, aber er wusste, dass ich das Spray auf keinen Fall einsetzen konnte, solange er das Kind hielt.
»Legen Sie sie hin und bleiben Sie, wo Sie sind.«
Aber er griff mit der Hand, die das Messer hielt, nach oben, zog sich die Maske über den Kopf und nahm sie ab. Ich starrte das zerstörte Gesicht darunter an und sah nicht einmal, wie die Maske hinter ihm im Schnee landete. Sein wirkliches Gesicht war hundertmal schlimmer als die Maske. Die linke Seite war vollkommen entstellt, die Nähte waren tief in die geschwollene, straffe Haut eingebettet. Ein Auge fehlte, an seiner Stelle befand sich nur noch eine Masse wunden Gewebes mit noch mehr Nähten, deren Fäden wie dicke, borstige Haare hochstanden. Er hatte sich selbst bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der Mann, mit dem ich im Krankenhaus gesprochen hatte, trug all seine Wunden jetzt offen zur Schau.
Unter den Verwundungen war sein Gesichtsausdruck von einer kaum unterdrückten Wut beherrscht. Und von Hass. Ich bemühte mich, ihm zu erwidern, als er mich wütend anfauchte.
»Waffen runter und aus dem Weg.«
Die Sirenen waren jetzt viel näher.
Ich schüttelte den Kopf. »Daraus wird nichts, Colin, und das wissen Sie auch.«
»So heiße ich nicht.«
Das Kind wehrte sich und stemmte sich mit seinen Händchen von ihm weg. Er hob das Messer und hielt es nah an sein kleines Gesicht. Mein Zorn wurde von Panik verdrängt …
»Tun Sie’s nicht …«
»Dann gehen Sie mir aus dem Weg.«
Ich zögerte. Es war eine unmögliche Situation. Ich konnte ihn nicht entkommen lassen, auf gar keinen Fall, aber angreifen konnte ich ihn auch nicht. Und nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war er wirklich bereit, das auszuführen, womit er drohte. Er hörte die Sirenen auch und hatte nicht vor, noch hier zu sein, wenn sie ankamen. Wenn ich ihn aufhalten wollte, hatte er jetzt nichts mehr zu verlieren. Noch ein Toter würde ihm nichts ausmachen.
Na los. Denk nach!
So musst du’s machen.
»Reardon hat getan, was Sie wollten«, sagte ich. »Sie können seiner Tochter jetzt nichts tun. Das würde gegen die Regeln verstoßen.«
»Es ist nach Tagesanbruch. Alle Spiele sind vorbei. Sie haben drei Sekunden.«
»Tun Sie’s nicht, Colin.«
»Zwei Sekunden.«
Er führte das Messer an Karlis Wange. »Eine.«
»Okay.«
Ich entspannte meine Haltung etwas und warf Pfefferspray und Schlagstock weg. Doch ich wich nicht zurück. Jede Sekunde musste so lange wie möglich in die Länge gezogen werden, während ich eine Möglichkeit zu finden versuchte, die Situation zu drehen.
»Jetzt gehen Sie mir aus dem Weg.«
Zögernd trat ich von dem Weg herunter. »Sie wollen nicht mehr mit mir reden?«
»Wir sind fertig miteinander.« Er kam näher und drückte sich um mich herum. »Ich hab von Ihnen mehr bekommen, als ich je wollte.«
Bei dieser Anspielung auf Lise ballte ich die Fäuste. Aber bevor ich etwas sagen konnte …
… blitzte Licht auf, rote und blaue Lichtkegel strichen über uns hinweg und warfen in rhythmischen Abständen Schatten auf das Haus hinter ihm, das sich plötzlich zu bewegen schien. Ich stand absolut still. Einen Moment lang starrte er über meine Schulter, dann wieder mit wütender Miene auf mich. Er presste das Messer gegen die Falte an Karli Reardons Hals.
»Es ist zu spät, Colin«, sagte ich. »Sie können nicht fliehen.«
»Schschsch«, flüsterte er Karli zu, behielt mich aber im Auge.
Hinter mir hörte ich Autotüren und Stimmen.
»Polizei!«
Das Krachen von Ellbogen, die auf Motorhauben aufgestützt wurden. Das Knacken der Funkgeräte, Schritte. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, wagte es aber auch nicht. Es waren die Geräusche der bewaffneten Einheit, die Position bezog. Ich konnte sie nicht sehen, doch ich war mir all der Waffen bewusst, die auf uns gerichtet waren. Barnes, der Polizistenmörder.
Ich hob mit zitternder Hand den Arm seitlich hoch und rief nach hinten: »Detective Mark Nelson. Bleiben Sie, wo Sie sind!«
Wenn es eine Gelegenheit zum Schießen gab, wünschte ich mir halb, dass sie sie nutzten, aber ich wusste, dass das Risiko zu groß war. Er würde Zeit haben, das Messer zu benutzen. Selbst wenn sie ihn direkt von vorn erwischten, wollte ich mir gar nicht vorstellen, was geschehen würde, nachdem der erste Schuss gefallen war. Die Salven, die losbrechen würden, und ich und Karli mitten in der Schusslinie.
Barnes hielt das kleine Mädchen im Arm und schmiegte seinen Kopf an ihren.
Ich sah, wie er leise mit ihr sprach, wobei sein Atem eine kleine Dunstwolke bildete.
»Schschsch, still jetzt.«
»Sie kommen hier nicht weg, Colin. Legen Sie sie hin.«
»Schschsch.«
Ich blickte zu dem hell erleuchteten Fenster hoch über uns hinauf, und das Blut dort versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich sah ihn wieder an.
»Sie haben alles, was Sie wollten.«
»Das ist Detective Mark Nelson.«
Barnes sprach leise zu dem schluchzenden Kind, doch sein Blick ruhte auf mir. Er wollte, dass ich mitbekam, was jetzt geschah.
»Siehst du ihn? Er sollte dich beschützen, aber du bist ihm egal.«
»Sie haben alles, was Sie wollten, Colin. Was soll das bringen?«
Barnes ignorierte mich. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war jetzt entschieden. Er hatte beschlossen, was er tun würde, und machte sich bereit. Der Zorn war verschwunden, und es war etwas noch Schrecklicheres an seine Stelle getreten. Freudige Erwartung.
»Sie werden Sie abknallen, kapieren Sie das nicht?«, sagte ich.
»Das ist mir egal. Ich kann meine Beute mit nach Hause nehmen.«
Mein Gott.
Wieder überkam mich ein Frösteln. Karli Reardon stemmte sich gegen ihn, aber er hielt sie fest, hatte sie mit seiner verletzten Hand gepackt. Das Blaulicht streifte ihr verzerrtes Gesicht.
Er flüsterte: »Mark hätte dich beschützen sollen, aber er hat beschlossen, dass dein Tod es wert ist, wenn sie mich nur kriegen.«
»Barnes, Sie sind …«
»Schschsch«, wiederholte er. »Ich weiß, wie schlimm sich das anfühlen muss.«
»Sie sind …«
»Aber das macht Mark immer. Verstehst du das jetzt?«
Sie sind verrückt. Natürlich war er das. Aber in seinem Kopf war dies alles ganz logisch. Er konnte nicht fliehen, konnte aber noch etwas Letztes rauben, um es mitzunehmen. Es war ihm gleichgültig, dass alles auf einer absurden pathologischen Störung beruhte: Für ihn war es vollkommen wirklich, und deshalb würde er es tun. Ich konnte ihn nicht davon abhalten. Ich blickte von Karlis Gesicht zu seinem, und mein Herz setzte aus, als ich sah, dass er die Augen schloss. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen.
»Colin …«
…aber dann war es einen kurzen Moment lang, als sei ich irgendwo anders. Es war nur ein kurzes Aufblitzen, doch in meinem Kopf summte es, Empfindungen kamen hoch. Das Rauschen des Meeres dröhnte in meinen Ohren, und ich streckte die Arme nach der Oberfläche aus, aber sie löste sich unter meinen Armen einfach auf. Ich war im Begriff, zu ertrinken, und alles war verschwommen, aber plötzlich erhaschte ich einen undeutlichen Blick auf den Strand, ein ganzes Leben weit von mir entfernt lag er vor mir, und als ich wieder unterging, wusste ich, dass er dort am Ufer war! Gott sei Dank! Oh Gott, er war gerettet …
… und dann sah ich wieder Barnes vor mir. Selbst als ich sah, dass er den Arm bewegte und sich bereit machte, das Messer anzusetzen, um Karli Reardon die Kehle durchzuschneiden, starrte ich ihn nur an. Alles andere um mich herum wurde undeutlich.
Du schaffst es.
»Colin«, sagte ich. »Ich glaube, Sie haben einen Fehler gemacht.«
»Schsch.« Seine Stimme war so leise, dass ich sie kaum hören konnte. »Es kommt.«
»Sie sind in größeren Schwierigkeiten, als Sie denken. Fühlen Sie das nicht selbst?«
Er bewegte seinen Arm nicht. Ich blieb gespannt und bereit, nur eine Sekunde davon entfernt, loszuspringen. Aber er öffnete die Augen und sah mich an.
»Ich fühle es auch«, sagte ich.
»Wirklich?«
»Nicht Karli.«
Ich zwang mich, auf seine von Prellungen übersäte Brust hinunterzublicken und sah zu, wie sie sich beim Atmen hob und senkte. Ich bemühte mich, so auszusehen, als sei ich davon wie hypnotisiert. Und ich lächelte, als bedeute das, was ich sagte, tatsächlich etwas. Empathie.
»Ich habe Ihnen im Krankenhaus etwas gegeben«, sagte ich.
Er nickte. »Und das nehme ich mit.«
Ich schüttelte den Kopf, immer noch lächelnd. Dann sah ich zu ihm auf.
»Aber Sie haben einen Fehler gemacht. Sie haben das in sich aufgenommen und gedacht, dass sie mich gehasst hat, als sie gestorben ist. Dass sie gewusst hat, dass ich sie nicht genug geliebt habe, um sie zu retten. Aber das stimmt nicht.«
Er starrte mich an. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich fast unmerklich, aber da war es.
Irgendwie schaffte ich es, meine Hand ruhig zu halten, als ich auf seine Brust zeigte.
»Wissen Sie, was sie gedacht hat, als sie starb, Colin?«, sagte ich. »Wissen Sie, was Sie in sich tragen? Ich weiß es nämlich. Sie hat daran gedacht, wie sehr sie mich liebt.«
»Nein, das hat sie nicht.«
Aber sein Lächeln verschwand allmählich. Und jetzt war etwas anderes in seinen Augen. War es aufkommende Panik, die ich sah? Er überdachte die Folgen dessen, was ich gesagt hatte, und ich erlaubte mir, mit ihm zu fühlen. Es würde wie ein kleiner Lichtschimmer sein, der langsam in seiner Brust erschien. Bis jetzt war er dort in der Finsternis verloren gewesen, aber jetzt, wo ich ihn ihm gezeigt hatte, wuchs er allmählich. Jetzt, da er sich dessen bewusst war, selbst wenn er mir nicht ganz glaubte, war ich sicher, dass er das nicht einfach ignorieren konnte.
Ich nickte. »Sie hat mich am Strand gesehen und war froh, dass ich in Sicherheit war. Sie wollte nicht, dass ich ihretwegen noch einmal reingehe.«
»Nein.«
Aber er fühlte es. Ich sah es an seinem Gesicht. Es begann, ihn zu schmerzen, sich durch ihn hindurchzugraben, wie ein Schrapnell, das im Körper wandert.
Hatte sich sein Arm ein wenig entspannt? Mir war so. Das Messer hatte er etwas von Karli Reardons Kehle zurückgezogen. Ich sah seine Hand an und bemerkte, dass sie zitterte.
Mach dem Dreckskerl Druck.
»Tut mir leid, Colin, aber es ist wahr. Das tragen Sie jetzt in sich. Damit haben Sie nicht gerechnet, nicht wahr?«
Als er wieder aufsah, war er blass geworden. Er war immer so sorgfältig gewesen, hatte alles so gut geplant. So akribisch genau. Allein die Möglichkeit, dass er einen Fehler gemacht haben könnte, war zu viel für ihn. Es verdarb alles.
»Die Kehrseite des Opfers«, sagte ich. »Lise wollte nicht, dass ich für sie sterbe.«
Sein Arm sank langsam herab, bis das Messer an seiner Seite hing. Ich unterdrückte den Impuls, mich auf ihn zu stürzen, stattdessen starrte ich auf seine Brust. Er atmete schnell und schwer, und ich musste ihm jetzt den Rest geben.
»Und deshalb frage ich mich, wie viele solche Dinge Sie noch da drin haben?«
Seine Brust bewegte sich nicht mehr. Eine Sekunde später fiel das Messer mit leisem Scharren in den Schnee. Er stieß einen leisen Laut aus.
Ich hob wieder die Hand und rief so laut ich konnte: »Nicht schießen. Halt!«
Ich starrte Barnes einen Moment lang an. Er sah mich immer noch direkt an, doch etwas fehlte in seinem Blick. Sein Gesichtsausdruck war leer, fast katatonisch starr, als hätte seine Psyche abgeschaltet, um dem Schrecken zu entkommen, der, wie ihm jetzt klar war, in seinem Inneren wohnte. Die Liebe musste vergiftet sein, bevor er sie jemandem raubte. Der Gedanke, etwas Reines in sich aufgenommen zu haben, war zu viel für ihn.
Karli Reardon wehrte sich gegen ihn, und ihm schien die Kraft zu fehlen, sie zu halten. Vorsichtig trat ich näher und nahm sie ihm ab.
Seine Hand war jetzt leer und fuhr unsicher durch die Luft. Dann hob er sie an die Brust und fing an, sich fast sanft die Nägel ins Fleisch zu graben. Frisches Blut von seinen Verletzungen lief herab. Ohne Vorwarnung gaben seine Beine nach, er fiel neben seinem Messer zu Boden, krümmte sich langsam zusammen und umklammerte mit den Händen seinen Oberkörper.
Ich trat zurück. Karli stemmte sich auch gegen mich, aber ich hielt sie fest und sah fast ungläubig auf sie hinunter. Sie lebte. Barnes war erledigt. Und ich war wohl auch nicht verletzt, obwohl ich jetzt erst merkte, wie wild mein Herz hämmerte. Mein Gott, wie ich zitterte.
Hinter mir kamen laute Schritte durch den Garten den Weg entlang.
Ich sah zum Fenster im ersten Stock hoch. Die zerbrochene Fensterscheibe und das Blut. Eileen.
»Nein …«
Es war Mercer, der an mir vorbeistürzte.
»Was hast du mit ihr gemacht?«
Ich sah sein Gesicht, voller Verzweiflung, Angst und Hass, und bevor ich etwas tun konnte, stürzte er sich auf Barnes; halb fiel er, halb kniete er sich hin. Seine großen Hände legten sich um seinen Kopf, seine Kehle, schlugen auf ihn ein und griffen dann zu.
»Was hast du getan?«
Ich legte Karli Reardon auf den Boden und packte Mercer, aber er schüttelte mich ab, stieß mich fast um, als hätte ich keinerlei Bedeutung für ihn. Im Kummer und Schmerz hatte er die Kraft gefunden, die ihm den ganzen Tag gefehlt hatte, und war jetzt baumstark, die Verkörperung seiner Gefühle, kraftstrotzend und unaufhaltbar wie ein Bär.
»Haltet ihn zurück!«
Doch die anderen Polizisten waren herangetreten und bildeten zögernd einen Halbkreis vor dem Haus. Ihre Pistolen waren alle mit beiden Händen auf den Boden gerichtet. Keiner machte eine Bewegung auf Mercer zu. Sie standen einfach da und sahen zu.
Er hatte Barnes am Hals gepackt, riss ihn hoch und schleuderte ihn zu Boden. Er schrie immer noch und brüllte, dass sich sein ganzer Körper von der Anstrengung verkrampfte, dem Mann auf dem Boden etwas anzutun. Barnes seinerseits war leblos wie eine Puppe, sein Kopf baumelte lose am Hals, und er fiel einfach hin, wo er hingeschleudert wurde.
Ich packte Mercer wieder, diesmal unter einem Arm, und zog ihn hoch, hatte ihn im Schwitzkasten und zerrte ihn zurück, so gut ich konnte. Aber er war schwer wie ein Stein, totes Gewicht, und schlug weiter zu. Dann griffen andere Hände nach ihm, endlich kamen mir die umstehenden Kollegen zu Hilfe. Ich trat zurück und machte ihnen Platz. Vier Männer waren nötig, um Mercer wegzuziehen; Barnes wurde einen Moment fast mitgeschleppt, dann schoben sie Mercer mit Gewalt den Weg hinunter.
Einen Augenblick lang schrie er sie immer wieder an, sie sollten ihn loslassen, doch dann verloren sich seine Worte in unverständlichen Schluchzern. Ich sah, wie er unter ihrem Gewicht zusammenbrach und im Schnee kniete, von uns abgewandt und die Hände vors Gesicht geschlagen.
Ich schaute auf Barnes hinunter. Er rührte sich nicht, Gesicht und Kopf waren blutüberströmt und der Schnee unter ihm mit roten Flecken übersät. Ich wusste nicht, ob das von Mercers Angriff oder von seinen früheren Verletzungen herrührte. Ich nahm Karli Reardon wieder auf den Arm. Der Leiter des bewaffneten Einsatzkommandos kam, blieb neben mir stehen und sah auf Barnes hinunter.
Er schnaufte und nickte.
»Mercer hat Ihnen das Leben gerettet. Der Bastard hätte Sie sich als Nächsten vorgenommen.« Er starrte mich eine Sekunde lang unverwandt an, um mir das klarzumachen. »Genau wie er es mit Andy gemacht hat.«
Ich sah ihn an. »Sie Vollidiot.«
Er zuckte mit den Schultern. Ich reichte ihm das Kind, er nahm es und ging den Weg hinunter. Ich starrte ihm ein paar Sekunden lang nach, kauerte mich neben Barnes hin und tastete nach einem Puls. Dann tastete ich noch etwas mehr herum. Verdammter Mist.
Ein paar Meter von mir entfernt kniete Mercer immer noch im Schnee, schien aber jetzt zusammenzusinken. Sein Schluchzen war verstummt. Ich starrte ihn an und geriet allmählich in Panik. Selbst unter diesen Umständen würde er dafür bestimmt verurteilt werden.
Sehr geehrter Detective Mercer, wenn Sie diesen Brief finden, haben Sie Ihre Entscheidung bereits getroffen.
Die ganze Nacht hatte er diese Entscheidung immer wieder aufs Neue getroffen. Er hatte seine Arbeit gewählt, nicht seine Frau. Und jetzt, wo es zu spät war, hatte er das Gegenteil getan. Ich empfand großen Kummer um ihn. Mitgefühl.
Unsere Aufgabe ist es, ihn zu unterstützen.
Ich sah an dem stillen Haus hinauf, auf das Blut am Fenster, und wappnete mich. Das Erste, was ich für ihn tun konnte, war, da hineinzugehen.
»Passt auf, dass er nicht ins Haus geht«, rief ich den anderen zu.
Die Männer schauten mich nur an. Aber wir konnten wohl alle sehen, dass John Mercer im Moment nirgendwo hingehen würde.
Ich stand auf, atmete tief durch und dachte: Bestreitbarkeit. Das Messer lag neben Barnes’ Leiche.
Ich bückte mich und schob es näher an ihn heran, was immer das auch bringen mochte.
4. Dezember
10 Minuten nach Tagesanbruch
7:30 Uhr
Eileen
Mehrere Meilen entfernt, auf der anderen Seite der Stadt, schlief Eileen.
Der Traum war derselbe, den sie schon vorhin gehabt hatte, bevor sie von Hunters Anruf geweckt worden war. Im Traum ging sie langsam durchs Haus und bemerkte, was fehlte. Die Kleider im Schrank, die Bücher auf den Regalen.
Vor einigen Tagen, als sie mit John darüber gesprochen hatte, war sie besorgt gewesen, dass er sie verlassen könnte, dass er seine Sachen nehmen und sie allein zurücklassen würde. Jetzt jedoch verstand sie, was der Traum ihr die ganze Zeit schon hatte sagen wollen. Die fehlenden Sachen gehörten nicht John, es waren ihre eigenen und waren es auch immer gewesen. In den Tagen, die vor ihr lagen, konnte der Traum wohl Wirklichkeit werden, je nachdem, wie die Dinge sich entwickelten. Jetzt hatte sie sich erst einmal abgesetzt, als Anfang. Nachdem sie das Telefon repariert hatte, rief sie Debra an. Und wie sie erwartet hatte, kam ihre Schwester, ohne zu zögern, und holte sie ab.
Im Traum kam sie in Johns Arbeitszimmer, und hier begann sie zu grübeln. Etwas hier drin war anders, etwas an dem Traum stimmte nicht. Der Raum war unglaublich still mitten in einem Wirbel unsichtbarer Gewalt. Jemand hatte Johns Papiere vor Wut von den Wänden gerissen. Jetzt schwebten sie in der Luft. Eileen stand mitten drin und betrachtete verwundert die Blätter, die in der Luft hingen.
Krach.
Sie wandte sich dem Fenster zu und sah die Sprünge und das Blut dort. Es war, als hätte jemand gerade rasend vor Wut gegen die Scheibe geschlagen und sich dabei verletzt. Eine Sekunde später verschmierte das Blut die Scheibe.
Vielleicht war es John, der zornig geworden war, weil ihm klar war, was er verloren hatte. Aber auch das kam ihr nicht richtig vor.
Ihre schlafende Psyche führte sie zum Schreibtisch mit dem Computer. Der Brief war genau da, wo sie ihn hingelegt hatte, und sie sah auf ihn hinunter, zuckte dann aber zurück, als eine Mischung aus Speichel und Blut in der Mitte erschien, voll Ekel dorthin gespuckt. John hätte das nie getan. Die unausgesprochene Logik des Traums gab ihr zu verstehen, dass jemand anders dafür verantwortlich war, aber sie wusste nicht, wer.
Eileen hob ihn vorsichtig auf.
Das Blut stieß sie ab, doch das machte nichts. Es war ja nur ein Traum, und sie wusste noch genau, was in dem Brief stand, denn sie hatte so lange über den Wortlaut nachgedacht. Sie beruhigte sich etwas. Im Schlaf sah sie das Blatt Papier und las, was ihr Mann lesen würde, wenn er schließlich nach Haus kam.
Also gut, John. Wenn es das ist, was du brauchst, hoffe ich, dass du jetzt zufrieden bist.Aber du hast mich angelogen und mich im Stich gelassen. Du hast mich nicht einmal angerufen, obwohl ich dich darum gebeten habe. Du konntest mir nicht einmal die Wahrheit sagen. Ich kann gar nicht beschreiben, wie schrecklich ich mich deswegen gefühlt habe, aber das Schlimmste daran ist, dass ich dich immer noch liebe, und deswegen habe ich Verständnis. Du wirst mir zumindest dieses zugestehen müssen, wenn auch sonst nichts. Ich habe Verständnis. Es ist dir am wichtigsten, und also musst du es tun. Aber ich verstehe, dass ich nicht mehr hier sein kann, während du es tust. Und danach vielleicht auch nicht.Ich bin in Sicherheit, und mir geht es gut. Meine Schwester holt mich ab. Bitte nimm keinen Kontakt mit mir auf. Ich melde mich.
In Liebe für immer,E x x
Eileen lag im Gästezimmer ihrer Schwester, drehte sich im Schlaf um und griff mit dem Arm auf die leere Seite des Bettes hinüber. Und endlich träumte sie von überhaupt nichts mehr.